Vom Rolandslied zum Befreiten Jerusalem und zurück
Der Autor und Islamwissenschaftler Joël László denkt ausgehend von Wael Shawkys Cabaret Crusades und Torquato Tassos Ritterepos Das befreite Jerusalem darüber nach, wie sich die Kreuzzüge bis heute als Metapher halten und in welchem Verhältnis die Metapher zur (brutalen) Realität steht.
Seit einiger Zeit beschäftige ich mich unter dem Arbeitstitel Islam.Fantasien mit Vorstellungen und Ideen zum «Islam», die sich über die Jahrhunderte in den europäischen Gesellschaften aufgespeichert haben. Versteht man das Mittelmeer als Kommunikationsraum (und nicht als Grenzraum), so verwundert es kaum, dass christliche und muslimische Identitäten sich stets in einer intensiven Auseinandersetzung miteinander befunden haben. In dieser Hinsicht ist die Gegenwart keine Ausnahme. Entsprechend vielfältig ist unser Archiv an tradierten Bild- und Gedankenwelten, die sich in irgendeiner Form auf den «Islam» einlassen, sich aber meist bald wieder abstossen und zielsicher zu uns zurückkehren. Auch in dieser Hinsicht gleicht die Gegenwart oft genug dem historischen Normalfall, wo sich in den Bewohnerinnen und Bewohnern der nordafrikanischen Küste, des muslimisch regierten Spaniens oder des östlichen Mittelmeerraums die verschiedensten Vorstellungen und Wissens-Splitter brechen und sich mit diversen Fantasien, mit Ängsten und Wünschen mischen. Die tradierten Typologien reichen von Magiern und Riesen zu Götzenverehrern und Polytheisten, vom fleischeslustigen Wüstling und seinen verschleierten Harems-Damen zum bärtigen Fanatiker.
Kreuzzugstexte als Metaphern-Reservoir
Die Kreuzzüge gehören zentral in dieses europäische Islamreservoir. Parallel zum historischen Phänomen, das sich über die Jahrhunderte entwickelt und verändert, entsteht ein ebenso komplexes diskursives Feld, das man als Kreuzzugtext bezeichnen kann. Diesem Kreuzzugtext zugehörig sind theologische Traktate und päpstliche Bullen ebenso wie Epen, Romane und Opernlibretti. Und noch heute tritt er uns entgegen in den Reden eines George W. Bush oder den grausamen Rechtfertigungen des Massenmörders Anders Breivik. Mit den letzten beiden Beispielen wird deutlich: Die Metapher des Kreuzzugs fusst nicht nur auf einem realen und brutalen Hintergrund, die Brutalität aktualisiert sich im Wechselspiel mit der Metapher, so wie die Metapher gleichzeitig die Fähigkeit hat, ihren eigenen brutalen Hintergrund zu verdecken.
Exotische versus alltägliche Gewalt
Das altfranzösische Rolandslied ist einer der bekanntesten Kreuzzugstexte und eines der frühesten europäischen Ritterepen. In Wael Shawkys Bearbeitung ist es am 22. und am 23. August 2017 am Zürcher Theaterfestival zu sehen, transformiert ins Hocharabische, gesungen von einem traditionellen Männerchor aus Bahrain. Einer der letzten Höhepunkte der höfischen Kreuzzugsepik ist ein Werk, das seit der Gymnasialzeit eine sonderbare Anziehung auf mich ausübt – Torquato Tassos 1574 vollendetes und 1581 publiziertes Gerusalemme liberata, deutsch: Das befreite Jerusalem. Dieses dichterisch wagemutige, oft unüberbietbare Durcheinander von Sehnsuchtsvollem, von Gewalt und Exotismus hat über viele Generationen einen Nerv getroffen. Musiker wie Haydn, Rossini, Brahms oder Dvořák, Maler wie Tiepolo oder Delacroix haben sich des Stoffes angenommen. Was mich persönlich fasziniert: Wie vollkommen die Ablösung des Erzählten vom Historischen sich darstellt. In dieser Hinsicht ist Tassos Epos das genaue Gegenteil der Arbeiten von Wael Shawky. Shawky führt uns in den Cabaret Crusades anhand der arabischen Quellen an die alltägliche Gewalt der Kreuzzugsrealität heran. Tasso schreitet darüber hinweg, sucht für sein Publikum ganz andere Kitzel.
Eine noble Schlacht vor Jerusalem?
Bereits im Titel findet sich ein Schauereffekt, und zwar ein theologischer. Jerusalem ist nicht mehr zu befreien, Jerusalem: ist befreit, und damit die Bühne bereitet für den Anbeginn der letzten Zeit. Der Moment kurz vor diesem allergrössten christlichen Abenteuer – der Wiedergewinnung des Ortes, wo Himmel und Erde sich berühren, ist auch der dramaturgische Dreh- und Angelpunkt von Tassos Epos. Im ersten Gesang sehen wir mit den Augen des frommen Gottfried von Bouillon, wie die Ritter aus allen christlichen Landen Aufstellung nehmen. Tausende zu Fuss, Tausende beritten in glänzenden Rüstungen, Helme, die funkeln im Licht. Es ist ein prachtvoller Morgen. Freude und Sehnsucht liegen in der Luft. Die Heeresschau ist ein Cliffhanger. Auf eine erste unerwartete Verwicklung folgt die nächste. Entführungen, Verzauberungen, magische Ritte, tragische Liebschaften über die beiden Lager und Religionen hinweg entfalten sich in achtzehn Gesängen. Erst im letzten Gesang: folgt das Werk. Gottfried von Bouillon, der betagte Anführer der Christen, schreitet endlich voran, verjüngt sich von Schritt zu Schritt. Die Himmelsgunst giesst ihm schimmernden Glanz ins Angesicht, schenkt ihm das Purpurlicht der Jugend aufs Neue. Gottfried, schreibt Tasso, erhebt sich über die irdischen Geschöpfe. Es folgt die Schlacht vor den Toren Jerusalems. Edelmut und Tollkühnheit auf beiden Seiten. In Nahaufnahme sehen wir die grossen Recken fallen. Endlich obsiegen die Kreuzfahrer. Gottfried geleitet seine Mannen, die Sonne tief am Horizont, in die befreite Stadt, zur Behausung Christi, hängt seine Waffen auf, und betet am Grossen Grab. So will es Tasso. So ist es, wiewohl längst als Schmonzette entlarvt, trotzdem irgendwo aufgespeichert in der grossen Metapher des Kreuzzugs. So niederträchtig das Unternehmen war, irgendwo funkelt ein Rest Heldenmut. Wie sonst hätte George W. Bush vor amerikanische und kanadische Truppen treten und einen Kreuzzug einfordern können?
Die Befreiung: Ein Massaker
Etwas Edles und Zeitloses blitzt stets im blanken Stahl. Etwas, das uns die Geschichte vergessen macht. Denn nie gab es eine noble Schlacht vor dem Stadttor. Im Gegenteil: Die Befreiung Jerusalems geriet zum Massaker. Wael Shawky erzählt davon in seinen Cabaret Crusades. Niemand vermag zu sagen, wie viele Opfer das Morden forderte. Unbestritten waren es Tausende, Juden, Muslime und orientalische Christen gleichermassen. Im Westen wurde das Blutbad mit zustimmendem apokalyptischem Gruseln aufgenommen. Wilhelm von Tyrus, Kanzler des Königreichs von Jerusalem, bedient diese Tonlage endzeitlichen Stolzes, wenn er in seiner Chronik detailliert schildert, wie in der ganzen Stadt die Erschlagenen herumliegen, wie Teile von menschlichen Gliedern, wie abgeschnittene Köpfe und verstümmelte Leichname der Juden und Muslime die Strassen säumen. Nicht genug, so Wilhelm von Tyrus, dass alleine in der Nähe des Tempels Zehntausend gefallen sind. Die Ritter wollen mehr. Sie tun sich zusammen, gehen in die Häuser, reissen wehrlose Familienväter, reissen Weiber und Kinder mitsamt ihrem Gesinde heraus und stossen sie von den Dächern, sehen zu, wie sie sich die Hälse brechen.
Gläubige Ritter unserer Zeit
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es ist ein verstörendes Ereignis. Ob am Schluss die selbstgefällige Blutrünstigkeit eines Wilhelm von Tyrus oder der sorglose Reigen von Heldentaten bei Tasso irritierender ist, ich will es nicht entscheiden. Um noch einmal das Verhältnis von Metapher und Realität im Kreuzzugtext zu beleuchten, lohnt sich ein Blick in eine andere Schrift Tassos mit dem Titel: Über die Dichtkunst, insbesondere das Heldenepos. Das bedeutende Heldenepos, so Tasso, gründe stets auf dem Zeugnis der Geschichte, auf der Wahrheit des Glaubens, auf der Eignung des Zeitalters und der Grösse und dem Adel der Geschehnisse. Stricke der Dichter aus diesen Zutaten erfolgreich sein Werk: So werde sich das Gemüt der Menschen unserer Tage am Beispiel eines gläubigen Ritters vielleicht noch einmal ganz besonders entflammen. Diese Entflammbarkeit der Herzen, wenn es um Wahrheiten des Glaubens – oder nur schon um simple Heldenerzählungen geht, ist eine menschliche Konstante, die Tasso zu Recht erkennt, die uns aber eher Sorgen denn Freude bereiten müsste. Als wahrgewordenem Alptraum begegnen wir ihr in den von verkitschten Kreuzfahrerbildern durchdrungenen Wahnfantasien Anders Breiviks, der zusammen mit acht anderen den Templerorden in London 2002 neu begründet haben will. Vom allgegenwärtigen Verweis auf Bernhard von Clairvaux' Lobrede auf das neue Rittertum (de laude novae militiae) über die Kommentarspalten und Texte verwandter Blogs und Videos: Ein Kreuzfahrersog tut sich auf, der die Aktivität der Metapher in beängstigender Weise bestätigt. George W. Bush kam das Wort Kreuzzug bloss zweimal öffentlich über die Lippen. Der Ton der Heldenerzählung jedoch zieht sich durch seine ganze Präsidentschaft, bestimmte seine Rhetorik.
Epik im Polit-Vokabular
Was für das Befreite Jerusalem gilt, gilt auch für die amerikanische Administration: Im gelungenen Epos spielen Realitäten und Opfer keine Rolle. Sie werden ausgeblendet, verschwinden magisch-narrativ. Geht es in der heutigen Berichterstattung auch nicht mehr um Ritter und Recken, Heldenerzählungen und Schurkengeschichten sind an der Tagesordnung. Gerade für den Nahen Osten ist der Schurkenstaat Teil des etablierten Polit-Vokabulars. Zu jedem Schurken aber gehört ein Held. Und im Schatten von Helden und Schurken verschwinden zuverlässig jene Perspektiven, die es braucht, um sich der Realität zu stellen. Perspektiven, die erst zeigen, wie es den Menschen in Kriegsgebieten geht, und wie unsere Geschicke und Schicksale auf komplexe Weise genau mit diesen Menschen verbunden sind. Berichte über die heldenhafte Tat, über die Bestrafung von Schurken, über spektakuläre Rückeroberungen von Städten, sie dienen heute genauso wie früher vor allem einem: Der Rechtfertigung der eigenen Waffengänge in ihren vielfältigen, offenen wie versteckten Formen.
Joël László, 1982 in Zürich geboren, schreibt Theaterstücke und Prosa und arbeitet als Übersetzer. Er studierte Islamwissenschaft und Geschichte und lebte längere Zeit in Kairo. In der Spielzeit 2017/18 ist Joël László Hausautor am Theater Basel und schrieb für die dortige Reihe «Paradise Lost» den Text «Islam.Fantasien». Im Rahmen von ZH-Reformation wird sein Stück «Zwingli.Wars» uraufgeführt, das in der Konfrontation des Täufers Felix Mantz mit Ulrich Zwingli den utopischen Glutkern der Zürcher Reformation aufblitzen lässt.