Im Café Select von Willy Bösiger stritten von 1935 bis 1988 Intellektuelle und KünstlerInnen, wo und wie in Zürich Reformen nötig sind. Jetzt wird das Haus renoviert und während dieser Zeit stellt die Fassade aktuelle Fragen, die um so grundsätzliche Reformen kreisen, wie sie die Reformation nicht nur für die Kirche sondern auch für die Gesellschaft bedeuteten.
Viele Baustellen in Zürich sind unübersehbar. Auch diese sieht man von weitem. Allerdings soll sie eher locken als stören: Die Fassade des ehemaligen Café Select ist während der Renovation mit den gezeichneten Versionen grosser und disputfreudiger Persönlichkeiten aus der Geschichte und dem heutigen Zürich verkleidet: von Katharina von Zimmern bis zu Karl Barth, von Johann Caspar Lavater bis zur aktuellen stellvertrenden SRG-Generaldirektorin Ladina Heimgartner. Kommt man näher, kann man sich in die Leben und Positionen einzelner einlesen.
Das zentrale Mittel der Reformation war die Disputation, das öffentliche Gespräch und die Auseinandersetzung um die biblischen Grundlagen des Christentums. Deshalb übersetzte man die Bibel, damit alle sie lesen, verstehen und darüber reden konnten. Und genau dafür steht auch dieses Haus: Von Architekt und Corbusier-Schüler Willy Bösiger mit dem Ziel errichtet, etwas Parise Bohème-Flair in die Stadt zu tragen, fanden im legendären Café Select während mehr als 60 Jahren öffentliche Dispute wie zu Zeiten der Reformation statt.
Auch heute existieren grosse Fragen, die einer Gesellschaft gesunde Streitkultur abverlangen: Wie steht es um Arbeit und Besinnung? Um unsere Ethik? Wie reagieren wir auf Migration? Gibt es neue Formen der Konfliktbewältigung? Diese Reformations-Fragen können auf einer Bauwand nicht beantwortet, aber wenigstens formuliert werden.