Auf den ersten Blick sieht dieses riesige, pinkfarbene Ding noch aus wie eine Hüpfburg für Kinder. Doch schon auf den zweiten entpuppt sich das aufblasbare Objekt mitten auf dem Gelände des Zürcher Theaterspektakels als, ja genau: als Kirche. Gotische Fensterbögen und ein kleiner Kirchturm inklusive. Am Nachmittag haben darin tatsächlich noch Kinder gespielt, aber jetzt, spätabends, steht Reverend Billy in weissem Anzug und mit Megafon davor und beschwört eine unmittelbar bevorstehende «shopocalypse», eine Shopping-Apokalypse. Hinter ihm entweicht langsam die Luft aus der Kirche, bis sie lautlos in sich zusammensackt. In was für einem Gottesdienst sind wir denn hier gelandet?
Hinter Reverend Billy steckt der New Yorker Schauspieler und Aktivist William Talen. Zusammen mit dem Stop Shopping Choir bildet er, so sein Selbstverständnis, eine postreligiöse, politisch radikal gesinnte Kirche, die mit spontanen Performances ihre Predigten unters Volk bringt. Neben öffentlichen Orten wählt die Gruppe, sowohl Guerillatheater als auch Gospelchor, dafür auch gerne politisch aufgeladenen Privatgrund aus – zum Beispiel den von Banken. Kein Wunder also, zog es Reverend Billy auch schon an den Zürcher Paradeplatz. 2012 führte er vor der dortigen UBS-Filiale ein exorzistisches Ritual durch, um der Bank den Teufel auszutreiben. Und 2017 stellten der Prediger und sein Chor sich in der Lobby desselben Bankgebäudes auf und besangen die umweltschädigenden Investitionen der Bank. «Die UBS investiert Milliarden in das Ende der Welt», schrie Reverend Billy durch die Lobby, bis er von privaten Sicherheitsleuten zu Boden gedrückt wurde. Draussen auf dem Paradeplatz warteten 13 Kastenwagen und über 30 PolizistInnen auf den völlig harmlosen Chor.
Am Theaterspektakel konnte man Reverend Billy und den Stop Shopping Choir für einmal in geordnetem Rahmen erleben. Bevor die Luft aus der Kirche weicht, spielt das Gospelspektakel auf der Seebühne. Dort wiederholt Reverend Billy an diesem Abend immer wieder sein Mantra: Stop shopping! Kauft nichts mehr! Und wir fragen uns: Meint er das ernst? Wo würde das denn hinführen, wenn wir seiner Aufforderung folgeleisten – in eine Rezession, einen Wirtschaftskollaps, vielleicht gar einen Bürgerkrieg? Aber halt, wir sind hier nicht im Theorieseminar und Reverend Billy bietet uns keine politische Lösung. Im Verlauf des Abends wird klar, worauf dieser aufreizend tanzende Politprediger mit seinem Agitationsgospel stattdessen hinauswill: auf den Funken, der Politik erst entfacht. Der Funke, der uns zur Tat schreiten lässt. Auf diesen unbeschreibbaren Rest des Politischen, der nichts ist und gleichzeitig alles: ein Glaube.
Was ist also das Problem mit dem Konsum? In einer langen Predigt zwischen den Liedern tadelt Reverend Billy die Mittelklasse und ihren Glauben an den ethischen Konsum. Wenn er von Konsum spricht, geht es also nicht um das Wirtschaftssystem, sondern um unser Bewusstsein. Um den Mechanismus, der uns existenzielle Fragen vergessen lässt, weil wir zu fest damit beschäftigt sind, uns zu fragen, welche Sorte Spaghetti wohl die bessere Ökobilanz hat. Dieser rohe Glauben kann aber doch noch mit einem kleinen Theorieseminar angereichert werden: Der Philosoph Ernst Bloch hat einst dasselbe zu begreifen versucht, was auch Reverend Billy behandelt. Bloch unterscheidet zwischen einem Wärmestrom und einem Kältestrom der Gesellschaftstheorie – kalt ist für ihn die nüchterne Analyse der Gesellschaft, warm die Beschäftigung mit den Hoffnungen der Menschen. Das Begriffspaar diente Bloch unter anderem dazu, den Aufstieg der Nationalsozialisten zu erklären. Diese hätten sich weniger an harten Fakten gehalten als eben an die Emotionen und Hoffnungen der Menschen. Das Scheitern des Widerstands gegen die Katastrophe hatte für ihn auch damit zu tun, dass die Gegenseite jenen Teil zu wenig ernstgenommen hat. Ist dieser Gedanke in einer Zeit, in der RechtspopulistInnen erschreckend viele Menschen mobilisieren können, nicht wieder brandaktuell?
Wir erinnern uns an die Fernsehinterviews mit den Pegida-DemonstrantInnen, die 2014 Woche für Woche durch Dresden marschierten – und an die Fernsehbilder in den vergangenen Tagen. Gefragt nach den Gründen, wieso sie so wütend seien, wussten diese oft schlicht keine nachvollziehbare Antwort. Dass Deutschland islamisiert werde, davon waren sie ungeachtet der Faktenlage überzeugt. Natürlich plädiert Reverend Billy nicht dafür, dass wir bei unserem politischen Engagement die Fakten vernachlässigen sollen. Doch er fragt nach dem irrationalen Antrieb, der hinter jedem Aktivismus steht. Nach dem, was der Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard in Bezug auf den Glauben als Sprung bezeichnet hat: Egal, wie viele gute Gründe du hast, etwas zu tun, für die Entscheidung, zur Tat zu schreiten, sind sie irrelevant. Im besten Fall ist der Antrieb nicht die Angst, wie bei den Leuten von Pegida, sondern eine Hoffnung, ein Glaube an eine bessere Welt.
Nun, vielleicht kann auch ein wenig Angst nicht schaden, denkt man sich, wenn man Reverend Billy und den Stop Shopping Choir über den Zustand des Planeten, über Fluten und Flammen singen hört. Denn was bringt ein solcher Glaube, wenn man an einem Ort lebt, an dem sich die Bedrohungslage den meisten bloss medial aufdrängt. Reverend Billy kann sich ein paar spitze Bemerkungen gegen die Schweizer Gemütlichkeit nicht verkneifen. Es hat ja tatsächlich etwas Absurdes, über den Klimawandel zu singen, wenn man auf einer Bühne steht, die über einem der saubersten Stadtseen der Welt schwebt. Hier kommt die Apokalypse ins Spiel.
Obwohl viele der Gospelsongs des Chors einen euphorischen, ja sogar triumphalen Ton anschlagen, sind ihre Texte geradezu besessen vom Ende der Welt – einer der Songs heisst tatsächlich «End of World». Darin zeigt sich, dass die Performances des Chors nicht nur eine künstlerische Auseinandersetzung mit Politik sind, sondern selber eine Form von Aktivismus – ein Aktivismus auf dem Feld der Kultur, der Bedeutung. Das Problem mit der Apokalypse sei nämlich, so Reverend Billy in einer längeren Predigt, dass die Unterhaltungsindustrie sich deren Narrativ angeeignet habe. Wir gehen ins Kino und sehen dort die Welt immer wieder untergehen – und die Abwendung der Apokalypse durch einen Superhelden. Als Konsumerfahrung wird die Apokalypse domestiziert, ihre reale Möglichkeit droht aus dem Blick zu geraten. «Wir müssen uns die Apokalypse zurückholen», schreit Reverend Billy ins Publikum. In Form dieses biblischen Motivs ist Religion also kein Opium fürs Volk, sondern das Gegenteil davon: ein Schock, der uns die Realität wieder spüren lässt.