Raffaella Massara, 33, arbeitet als Anwältin bei der Berner Beratungsstelle für Menschen in Not (RBS). Die RBS hat zusammen mit der Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) für ZH-Reformation das Pilotprojekt «Zugang zum Recht» erarbeitet. Massara sieht darin auch eine Chance für dieWeiterentwicklung des Rechts.
Raffaella Massara, Sie betreuen bei der RBS unter anderem das Pilotprojekt «Zugang zum Recht». Was ist das genau?
Es geht darum, Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren einen besseren Zugang zu Rechtsberatung zu ermöglichen.
Weshalb hat sich die RBS für dieses Projekt mit der FIZ zusammengeschlossen?
Seit 2014 ist die RBS im Asylverfahrenszentrum des Bundes in Zürich verantwortlich für den Betrieb der Rechtsberatungsstelle, die Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter. Während unserer Arbeit im beschleunigten Verfahren gab es immer mehr Fälle, bei denen wir den Verdacht hatten, dass die Geflüchteten durch Menschenhandel in die Schweiz gekommen sind. Daher suchten wir die Kompetenz der Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration; das Beratungsteam dort ist entsprechend geschult und findet daher viel einfacher Zugang zu den Opfern als wir Jurist*innen. Dafür sind wir im rechtlichen Bereich stärker. Diese Zusammenarbeit ist eine optimale Ergänzung.
Die FIZ schreibt in ihrem Jahresbericht 2017, dass die Anzahl der Opfer von Menschenhandel angestiegen ist. Können Sie das bestätigen?
Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die Rechtsberatung von Anfang an im beschleunigten Asylverfahren hilft die Opfer von Menschenhandel zu identifizieren. Ob es mehr Opfer von Menschenhandel gab in den letzten Jahren, kann ich nicht beurteilen, aber ich würde sagen, dass die Erkennungsquote gestiegen ist – die Dunkelziffer dürfte noch immer gross sein. Am Standort Zürich mit dem neuen beschleunigten Verfahren ist das Erkennen eines Opfers einfacher als in Bern. In Bern, wo wir asylsuchende Personen im ordentlichen Asylverfahren unterstützen, kommen wir mit vielen Betroffenen erst ab dem Zeitpunkt des Asylentscheids in Kontakt. In Zürich sind wir Jurist*innen hingegen von Anfang an mit dabei, reden mit den Menschen, begleiten sie und können so Opfer von Menschenhandel auch besser identifizieren. Die meisten sagen ja nicht von sich aus: «Hey, ich bin ein Opfer», das ergibt sich sehr oft erst später aus Gesprächen, stückweise.
Wie muss man sich das vorstellen?
Wenn ich eine Vermutung habe, dann frage ich jeweils sehr genau nach: «Du warst länger in Italien, wie war das genau?», im besten Fall kommen dann mehr Fakten ans Tageslicht. Dass eine Frau beispielsweise erzählt, dass sie vergewaltigt wurde. Oder dann erzählt sie im zweiten oder dritten Gespräch, wieder auf Nachfrage, dass sie eingesperrt wurde und immer wieder Männerbesuch empfangen musste. Wenn ich dann den Verdacht hege, dass die Person durch Menschenhandel hergekommen ist, dann weise ich die Frauen auf die Organisation hin, die Menschen berät, die das Gleiche erlebt haben wie sie und erkläre, dass ich sie mit dieser Organisation vernetzen kann – mit der FIZ. Die FIZ übernimmt dann, führt Gespräche und erstellt Berichte zur Opfereigenschaft und Gefährdungssituation. Ich begleite die Frauen durch den ganzen juristischen Teil des Asylverfahrens. Ich spreche das Wort «Menschenhandel» gegenüber den Opfern aber nie aus. Für die betroffene Person ist das unglaublich stigmatisierend und alleine der Fakt, dass sie davon betroffen ist, ist für sie mit viel Scham verbunden.
Beeinflusst der Fakt, dass jemand durch Menschenhandel in die Schweiz gekommen ist, das weitere Asylverfahren?
Das Projekt «Zugang zum Recht» soll dazu führen, dass das in Zukunft im Asylverfahren durchwegs berücksichtigt wird, so dass in jedem Einzelfall die konkrete Gefährdungssituation und das Schutzbedürfnis des Opfers abgeklärt wird. Momentan haben wir zwar die entsprechenden Abkommen, die teilweise ins nationale Recht umgesetzt sind, es sind aber verhältnismässig junge Erlasse und es gibt noch viele offene Rechtsfragen. Unser Ziel ist es, die Behörden dazu anzuhalten, ihre Pflichten aus diesen Verträgen umzusetzen – vor allem das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels des Europarates, das hier am 1. April 2013 in Kraft getreten ist und das UNO-Protokoll zur Verhinderung, Beseitigung und Bestrafung von Menschenhandel, das bei uns vor 12 Jahren in Kraft getreten ist. Weil es noch nicht allzu viel Rechtsprechung zu diesem jungen Recht gibt, gibt es auch noch nicht viele Beispiele, wie diese Verträge umzusetzen sind. Unser Pilotprojekt will diese Entwicklung mitantreiben.
Welche offenen Rechtsfragen stehen für Sie noch im Raum?
Zum Beispiel die Identifizierungspflicht, die aus diesen Verträgen hervorgeht. In Dublin-Verfahren haben wir beim Gericht diese Pflicht geltend gemacht und argumentiert, dass das Staatssekretariat für Migration dieser Pflicht nachgehen muss und erst danach entscheiden sollte, wie es für die betroffene Person im Asylverfahren weitergeht. In dieser Frage hat uns das Bundesverwaltungsgericht Recht gegeben und Fälle zur vollständigen Abklärung an das Staatssekretariat für Migration zurückgewiesen. Eine weitere Frage ist die Unterbringung. Aus dem Übereinkommen geht hervor, dass bei Opfern von Menschenhandel, eine gute Betreuungsstruktur gewährleistet werden muss. Wir stellen vermehrt fest, dass es für Opfer von Menschenhandel ungünstig ist, wenn sie in den regulären Asylunterkünften untergebracht sind. Beispielsweise, wenn es keine gute Trennung zwischen Frauen- und Männern gibt. Wir stellen dann jeweils einen Antrag auf eine andere Unterbringung und ziehen das auch weiter, wenn es notwendig ist. Eine weitere Frage ist ausserdem, ob Opfer von Menschenhandel die Flüchtlingseigenschaften erfüllen.
Was bedeutet das?
Dass die Person den Asylstatus und somit eine B-Bewilligung erhält. Bekommt man Asyl, ist man anerkannter Flüchtling. Das Bundesverwaltungsgericht besagt zwar, dass bei einem Opfer von Menschenhandel, das im Heimatland in Gefahr läuft vom Menschhandelsnetzwerk aufgespürt und erneut ausgebeutet zu werden, nicht dorthin zurückgeschickt werden darf. Das resultiert dann aber «nur» in einem F-Status für die betroffene Person, also in einer vorläufigen Aufnahme – kein Asyl. Unsere Nachbarländer sind da bereits einen Schritt weiter, sie anerkennen Opfer von Menschenhandel unter bestimmten Voraussetzungen als Flüchtlinge. Die Schweiz konnte sich noch nicht dazu durchringen.
Für das Projekt «Zugang zum Recht» arbeiten Sie unentgeltlich. Als Juristin könnten Sie bestimmt super verdienen, warum haben Sie sich dafür entschieden?
Ich wollte als Juristin immer im sozialen Bereich tätig sein, das grosse Geld hat mich noch nie mehr gelockt als das Interesse an der Sache selber.