Selma Matter, Anaïs Rufer, Mara Richter, Nicola Bryner und Deborah Mäder tragen zusammen, was sie bisher über die reformierte Kirche gelernt haben. Anaïs Rufer weiss nun, dass der Pfarrer von Oerlikon selten zu Hause zu Mittag isst. «Aber halt auch nicht einfach so im Mac.» Sie sind die ReformationsbeobachterInnen. Die ReformationsbeobachterInnen sind konfirmiert oder konfessionslos, reformiert oder katholisch. Sie sind zwischen sechzehn und neunzehn Jahre alt. Der Glaube ist ihnen wichtig, egal oder fremd. Von der Kirche und der Reformation haben sie alle wenig Ahnung. Sie denken über Glauben, Kirche und Reformation nach. Dazu nutzen sie das wichtigste Instrument des Journalismus: die Frage. Ihre Gedanken und Antworten verarbeiteten sie unter Leitung von Gina Bucher zu Texten. Die Antworten erscheinen als Serie auf der letzten Seite von «reformiert.» und hier auf der Homepage des Zürcher Reformationsjubiläums.
#1 Warum klatscht keiner?
Von Nicola Bryner
Warum wird in der Kirche eigentlich so selten geklatscht, obwohl die Mitwirkenden den Applaus durchaus verdient hätten? Dass es verpönt ist, in der Kirche zu klatschen, weiss ich spätestens seit meiner Konfirmation. Nach dem Gitarrenspiel eines Kollegen konnte ich mich nicht zurückhalten: Ich zollte ihm den Respekt, den ich vor ihm und seiner Darbietung hatte, und klatschte – als Einziger. Aber wieso darf man in der Kirche nicht applaudieren? Gott allein. Als ich auf meiner Suche nach dem Grund dieses ungeschriebenen Gesetzes meinen Konfirmationspfarrer um Rat fragte, fand ich schnell heraus, dass es durchaus Kirchen gibt, in denen geklatscht wird. Selten allerdings in reformierten. Applaus störe die Atmosphäre. Zudem soll in der Kirche nur jemandem, nämlich Gott, Ehre erwiesen werden und keinen Personen wie der Pfarrerin, dem Pfarrer – oder dem musizierenden Kollegen. Hinzu kommt die Schweizer Mentalität, in der die Kirche als Ort der Ruhe und Besinnlichkeit verankert ist. Klatschen gegen den Schlaf. Schade eigentlich. Das Klatschen würde Gottesdiensten ein körperlich aktivierendes Element verleihen und eher erwecken statt einschläfern.
#2 Warum liest eine Atheistin in der Bibel?
Von Selma Matter
Als die Reformationsbeobachterin eine atheistische Kunsthistorikerin fragt, ob sie die Bibel lesen soll, wird es zuerst einmal ziemlich lang still im Telefon. Bettina befasste sich im Kunstgeschichtsstudium mit dem Neuen Testament. Zwanzig Jahre später betrachtet sie ihre Bibellektüre nüchtern: «Mit meinem eigenen Glauben hatte das nichts zu tun.» Beeinflusst haben sie die Texte nicht, beeindruckt schon. Das Neue Testament, sagt sie, sei in seiner Thematik sehr weltlich. Es behandle urmenschliche Themen wie Gewalt oder Lust, welche auch in der christlich geprägten Kunst auftreten. Weil sich das Kunsthandwerk nicht mit rein weltlichen Themen auseinandersetzen durfte, wurde alles im Rahmen religiöser Darstellung verhandelt. Um diese Werke zu verstehen, seien Bibelkenntnisse unerlässlich, sagt die Kunsthistorikerin. «Aber ich erinnere mich nicht mehr im Detail, das ist lange her.» Viel präsenter ist ihr, was biblische Texte anhand beispielhafter Geschichten über die Menschheit erzählen. «Soll ich die Bibel lesen?», frage ich sie. Stille in der Telefonleitung. «Ich denke, ein Evangelium sollte man schon gelesen haben», sagt Bettina irgendwann.
#3 Was kostet eine Trauung?
Von Anaïs Rufer
Die Reformationsbeobachterin erhielt vom Pfarrer eine einfache Antwort und eine kleine Sozialgeschichte über das Heiraten. «Eine Trauung in der Kirche kostet nichts», erklärt mir Ralph Müller, reformierter Pfarrer der Kirchgemeinde Oerlikon. Jedem Paar, das Kirchenmitglied sei und entsprechend Steuern zahle, werde ein Pfarrer, die Kirche und ein Organist gratis zur Verfügung gestellt. Extras muss man allerdings selber bezahlen, zum Beispiel die Blumen. Doch wer heiratet heute überhaupt noch in der Kirche? Nach 1968 warfen junge Paare gängige Moralvorstellungen über Bord und der gesellschaftliche Druck, in der Kirche zu heiraten, liess nach. Von über 40 000 Hochzeiten pro Jahr werden in der Schweiz nur noch rund 8000 in der Kirche gefeiert. Private Hochzeitsorganisatoren werben damit, dass sie Hochzeiten sehr persönlich gestalten. Jene, die noch in der Kirche heiraten, zeigen sich häufig sehr überrascht, wie persönlich auch hier geheiratet werden kann. Um dem Rückgang entgegen zu wirken, gehen zwei junge Pfarrerinnen aus Stäfa einen ungewöhnlichen Weg: Sie bieten Speeddatings für Singles in ihrer Kirche an.
#4 Wer putzt die Kirche?
Von Deborah Mäder
Die Reformationsbeobachterin muss viel telefonieren um zu erfahren, warum der Sigrist für jede Kirchgemeinde wichtig ist und findet seine Spuren im Alten Testament. Nach gefühlten Stunden der Herumtelefoniererei und Abwarten der Betriebsferien der reformierten Kirche habe ich endlich rausgefunden, dass der Sigrist beziehungsweise Küster die Kirche reinigt. Aber er putzt sie nicht nur, er bereitet für die Gottesdienste jeweils auch den Kirchenraum und die Sakristei vor. Zudem ist er meist der Hausmeister der Kirche, das heisst, er schaut auf die Instandhaltung der Kirche und verrichtet technische und handwerkliche Tätigkeiten, die anfallen. Häufig wird dieser Dienst neben- oder ehrenamtlich ausgeübt. Das Amt des Sigrists ist geschichtlich schon sehr früh aufgetaucht, bereits im Alten Testament wird davon gesprochen. Damals gehörten auch noch andere Tätigkeiten zu seinen Aufgaben. Bis heute ist der Sigrist ein sehr wichtiges Mitglied jeder Kirchengemeinde. Unterdessen ist er nicht mehr nur für die «Hauswartarbeiten» zuständig, sondern noch für vieles mehr. In grossen Kirchen wird er von Putzteams und anderen Helfern und Helferinnen unterstützt.
#5 Wo isst ein Pfarrer zu Mittag?
Von Anaïs Rufer
Die Reformationsbeobachterin erlebt im Gespräch mit dem Pfarrer von Oerlikon eine Überraschung. Die reformierte Kirche Oerlikon ist nicht weit von meiner Schule entfernt. Deshalb glaubte ich, Ralph Müller, der Pfarrer aus eben dieser Kirche, würde so wie ich manchmal in der Migros, im Coop, beim Chinesen oder Italiener zu Mittag essen. Aber nein – ein Pfarrer hat viel zu tun und oft wird das Mittagessen in Form eines Sandwichs zwischen zwei Terminen gegessen, aber häufiger noch steht ein Leidmahl «auf dem Programm.» Nach einer Abdankung wird auch der Pfarrer zum anschliessenden Essen eingeladen, wobei sich oft interessante und spannende Gespräche ergeben. Andere Mittagessen sind gleichzeitig Seelsorgegespräche. Der Pfarrer hört zu und isst, und der Besorgte, der spricht sich aus der Seele. Am Samstag wird bei Ralph Müller zuhause gegessen und jeweils donnerstags macht er sich auf zum Rotary Lunch oder stattet dem Mittagstisch der Alterssiedlung einen Besuch ab. Einen vollen Magen wird er auf jeden Fall haben bei diesem breiten Angebot.
#6 Was haben Pussy Riot mit Zwingli zu tun?
Von Mara Richter
Beflügelt von Gedanken zur Zürcher Reformation, mache ich mich von unserer Reformationsbeobachterinnen-Sitzung auf in die nahe Gessnerallee. Dort performt im Rahmen des Reformationsjubiläums ein Teil von Pussy Riot mit der «Riot Days Show». So etwas habe ich noch nie gesehen: Die vier Aktivistinnen füllen die Bühne wild und stürmisch. Das Punk-Theater fordert heraus, ist so unbequem wie faszinierend und wirft viele Fragen auf: Inwiefern darf man die Kirche kritisieren? Wo soll man dazu ansetzen? Hier sei auch die Verbindung zur Reformation angesetzt, erklärt mir die künstlerische Leitung der Gessnerallee. Protest im Wandel der Zeit. Während Pussy Riot in Russland 2012 für vierzig Sekunden in der Christ-Erlöser-Kathedrale Punk spielten und dafür zwei Jahre inhaftiert wurden, treten sie hier vor grossem Publikum auf. Das beweist wohl die Offenheit der Stadt Zürich, die nicht nur vor 500 Jahren zur Reformationszeit herrschte, sondern auch heute spürbar ist.
#7 Wer waren die Reisläufer?
Von Nicola Bryner
Der Reformationsbeobachter setzt sich mit dem dunklen Kapitel der Reisläuferei auseinander, bevor er an die Aushebung geht. Weil ich morgen zur Aushebung muss, höre ich von den Reisläufern. Unsereins lernt im Geschichtsunterricht vieles – aber nichts über Reisläufer. Falls jemand ebenfalls anderes in der Schule lernte, eine kurze Erklärung: Reisläufer sind Soldaten, die im Auftrag eines anderen Staates oder Kriegsherren kämpften. Noch heute gibt es sie, bekannt als Schweizer Garde im Vatikan, Fremdenlegion oder private Söldnerfirmen. Reformator Zwingli hatte eine klare Meinung zu den Reisläufern. Er fand, dass sie und die üppigen Pensionen, die ihren Herren zuflossen, Ursachen für Untreue und Verrat seien. Zudem meinte er, die Annahme der Pensionen verweichliche die Eidgenossen mit neuen Lastern wie Kleiderluxus. Reformierte Kantone erliessen Gesetze gegen Reisläufer, womit ihnen eine wichtige Einkommensquelle genommen wurde. Der Gedanke, für Geld in einen Krieg zu ziehen, kommt mir noch einmal makabrer vor als aus Überzeugung für etwas zu kämpfen.
#8 Was rät mir Zwingli in Wiedikon?
von Mara Richter
Zwingli gab mir einen Rat: Spread your words! Deine und meine. Und genau das tue ich heute, indem ich erzähle, wie dieser Austausch mit Zwingli war. Ich befinde mich in Wiedikon, an einem regnerischen Mittwoch mit Kopfhörern und einer App auf dem Handy, und falle wohl niemandem auf. In meinen Ohren: die Stimme Zwinglis. Gut anderthalb Stunden führt er mich durch die Umgebung, erzählt mir von der Reformation, wofür er berühmt ist und wie ich ähnliches in mein Leben einbauen kann. Im Garten des Völkerkundemuseums rät er mir: Clevere Reformatorin, bilde Dich! Daraufhin erfahre ich von Zwinglis Ausbildung. Damals waren die meisten Analphabetinnen und Analphabeten. Er hingegen übersetzte die Bibel. Nach dem Ende meines Spaziergangs mache ich es mir im Tram auf dem Heimweg bequem und schlage mein aktuelles Buch auf. Mir wird bewusst, dass wir Zwingli viel mehr zu verdanken haben als die Dinge, die direkt mit der Kirche zusammenhängen.
#9 Wie finde ich die passenden Worte?
von Mara Richter
Poesie, Protest und Propaganda: Der Strauhof zeigt eine Ausstellung über das Wort. Der Rundgang beginnt bei der Reformation und rückt die Bedeutung des Wortes Gottes in den Fokus. Die Reformatoren forderten vor 500 Jahren, dass diesem mehr Wert beigemessen wird, dies brachte eine ganze Bildungsrevolution mit sich, das gesprochene wie geschriebene Wort wurde in die Gesellschaft getragen. Auch im zweiten, aktuelleren Teil finden wir einen Verweis auf die Reformation. Martin Luther und Martin Luther King haben mehr als ihre Namen gemein: Der Bürgerrechtsaktivist orientierte sich an einer symbolischen Aktion des Reformators, indem er 1966 seine Forderungen für soziale Gerechtigkeit an die Ratshaustüre in Chicago schlug. Ich habe viel gelernt über verschiedene Verwendungen des Wortes. Dennoch hilft mir die Ausstellung gar nicht, die richtigen Worte für diesen Text zu finden, um sie passend zusammenzufassen – ich empfehle einen Besuch!
#10 Kann man zur Not in der Kirche wohnen?
von Selma Matter
Unter Halbwissenden kursiert das Gerücht, die Kirche sei verpflichtet, Menschen in Not eine Unterkunft zu bieten. Das Produkt meiner kindlichen Fantasie: Obdachlose und andere, die auf ihrem Recht bestehen, machen es sich auf nackten Kirchenfliesen gemütlich. Als ich mich an die reformierte Kirche des Kantons Zürich wende, werde ich eines Besseren belehrt. Keine Verordnung verpflichtet die Kirche zur Gastfreundschaft. Wer darauf angewiesen ist, bekommt trotzdem einen Schlafplatz – aber eher bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber als im Kirchenschiff. «Die Fremden aufnehmen» ist eins der sieben «Werke der Barmherzigkeit» im Matthäusevangelium. Während die Evangelien für die Reformierten allgemein grundlegend sind, bezeichnete Papst Franziskus die Werke der Barmherzigkeit als Kern des Evangeliums.Die Kirche als Gebäude bleibt nachts leer, weiss ich jetzt. Aber als Gemeinschaft kümmert sie sich, ganz egal ob reformiert oder katholisch.
#11 Was verbindet Momo, Asterix und die Bibel?
von Lenya Schiess
Hobbit, Momo, Asterix, Duden: alles gedruckte Werke. Natürlich kann man Bücher auch online lesen, aber normalerweise sind sie auf Papier gedruckt. Doch seit wann? Wissen moderne Druckereien etwas darüber? «Da sind Sie hier am falschen Ort.» Oder: «Im Internet finden Sie sicher mehr heraus.» Diese Antworten erhalte ich. Braucht man das Internet, um etwas über Buchdruck zu erfahren? Nein. In einer Führung durch einen Kleinbetrieb erfahre ich viel über früher und heute. Man spricht stets von Gutenberg, doch schon vor ihm ritzte man Zeichen in Holz, druckte damit Farbe auf Papier. Um 1450 erfand Johannes Gutenberg die Druckpresse. Er spannte mobile Buchstabenstempel aus Blei in einen Rahmen und druckte damit gleich mehrere Seiten. Die Erfindung ermöglichte es, Informationen schneller zu verbreiten. Flugblätter und Bibeln. Und die Reformation? Sie kam erst mit dem Druck richtig in Fluss. Oder umgekehrt? Darüber streiten die Experten.
#12 Wo kommt Zwingli her?
von Anaïs Rufer
Ich war noch nie im Toggenburg und habe auch nicht gedacht, dass es mich dahin verschlägt. Doch das Angebot eines Wochenendes mit der Theatergruppe in einer Wohnung in Wildhaus habe ich nicht ausgeschlagen. Im Ort ist nicht besonders viel los. Ein Chalet folgt auf das andere, ich habe Mühe damit, unser Haus von den anderen zu unterscheiden. Durch das Reformationsapp auf meinem Handy habe ich erfahren, dass Huldrych Zwingli höchstpersönlich in Wildhaus geboren ist und dort bis zu seinem siebten Lebensjahr gelebt hat. Sein Geburtshaus ist heute ein Museum. Den Heimweg treten wir mit dem Postauto an, ein Doppeldecker, wir sitzen im oberen Stock ganz vorne und haben die Panoramasicht. Zur Geburtszeit Zwinglis wurde hier wohl hauptsächlich Landwirtschaft betrieben, Viehhaltung war eher schwierig. Noch immer habe ich etwas düstere Bilder der Reformation im Kopf, doch Wildhaus wird wohl schon vor 500 Jahren so grün gewesen sein wie heute.
#14 Werden heute noch Kirchen gebaut?
von Nicola Bryner
Denke ich an Kirchen, haben alle etwas gemein: Sie wurden gefühlt vor der Geburt Christi gebaut. Vielleicht liegt dieser verschrobene Eindruck an meinem geringen historisch-architektonischen Verständnis, oder aber daran, dass ich schlicht zu wenige Kirchen kenne. Auf meiner Recherche stosse ich schnell auf einen, für mich, überraschenden Fakt: Heute werden noch immer Kirchen gebaut. Besonders dann, wenn es in einer Kirchengemeinde viele Zuzüge gibt oder alte Kirchen durch Katastrophen zerstört wurden.
So gibt es neben vielen unspektakulären, vornehmlich freikirchlichen Gebäuden auch einige nennenswerte Bauten, wie zum Beispiel Mario Bottas katholische Kirche in Mogno. Besonders gefalle ihm das Zusammenspiel von Licht und Schatten, welche es beim Kirchenbau zu beachten gibt – und, dass so ein Projekt natürlich viel Ehre mit sich trage. Da die Vorgaben für den Bau von Kirchen über die Jahre nicht mehr so streng interpretiert wurden, findet sich kaum eine klassische Kirchensilhouette mit jungem Jahrgang, dazu zählt auch Bottas Meisterwerk. Ein Grund dafür, warum ich wohl schon öfters an neuen Kirchen vorbeigekommen bin, ohne sie erkannt zu haben.
#15 Wer war noch mal Erasmus?
von Selma Matter
Luther, Zwingli: Bekannt. Calvin: Mit Unterhosenlabel verwechselt. Und Erasmus: Das Uniaustauschprogramm? Man kann uns die Unsicherheit nicht vorwerfen. Selbst Martin Luther wusste nicht, was er von dem ungreifbaren «Aal» halten sollte. Erasmus von Rotterdam lebte hier und da. In Basel liess er ab 1514 religionskritische Schriften drucken. Er war ein sehr produktiver Autor, schrieb rund 1000 Wörter am Tag, 150 Bücher insgesamt und 2000 Briefe. Mit seinen Schriften wurde Erasmus zum vielleicht wichtigsten Humanisten seiner Zeit. Das griechische Neue Testament überarbeitete er zu einer kritischen Edition in Latein, bald Grundlage für Luthers Bibelübersetzung. Man hätte meinen können, er würde mit der Reformation sympathisieren. Als diese sich aber in Basel durchsetzte, siedelte Erasmus ins katholische Freiburg im Breisgau über. Er war von den Reformatoren enttäuscht, ihrem Konflikt mit der katholischen Kirche, und sie von ihm, der er die Reformation zuerst gutgeheissen hatte.Erasmus und die Reformation verbindet also weit mehr, als der Umstand, dass das Erasmusprogramm gerade reformiert wird.
#16 Warum sind Freikirchen so beliebt?
von Deborah Mäder
Als ich in der riesigen Halle den Texten der berauschenden Songs zuhörte, flogen mir Tausende Fragen durch den Kopf. Auch am nächsten Tag fiel es mir schwer, die Refrains einzuordnen. Sagen sie nicht alle das Gleiche über Christus, unseren Retter? Mich beeindruckte, wie die Masse, die meisten davon in meinem Alter, sich so begeistern liess für die Liebe, das Vertrauen in Jesus Christus und die Kirche, da doch die meisten, die ich kenne, nach der Konfirmation nicht mehr zur Kirche gehen.
Von der Tochter des Priesters einer Freikirche in Uster erfahre ich, dass es viele verschiedene Freikirchen gibt und sich nicht alle mit der reformierten Kirche identifizieren. Jedoch nehmen viele Freikirchen Elemente der Reformation als Grundlage.
Eine gute Sache
Auf jeden Fall war es interessant, die Kirche anders kennnenzulernen. Auch wenn ich mich persönlich nicht mit der Kirche identifizieren will, finde ich es eine gute Sache, gemeinsam zu zelebrieren, egal von wo man kommt oder was man macht.
#17 Warum habe ich heute eigentlich frei?
von Mara Richter
Ironischerweise beginnt meine Auseinandersetzung mit den Feiertagen an Pfingsten. Bei Pfingsten handelt es sich um den 49. Tag nach dem Ostersonntag, es wird die Entsendung des Heiligen Geistes gefeiert. Heute haben alle frei. Ausser die Walliser.
Manche Feiertage werden nur von den katholischen Kantonen anerkannt, andere nur von den reformierten. Das ist aber keine feste Regel, grundsätzlich kann jeder Kanton frei entscheiden, was er wann feiert. Anfang des 16. Jahrhunderts halbierte Reformator Bullinger die bis damals 120 arbeitsfreien Tage auf 60. Das erhöhte die Wirtschaftskraft der reformierten Kantone enorm.
Heute möchten die Zürcher Jungsozialisten alle christlichen Feiertage ersetzen. Stattdessen könnte etwa der Frauentag gefeiert werden, sagt mir Co-Präsident Luca Dahinden am Telefon.
Ich glaube, es ist wichtig, eine Debatte in Gang zu setzen und die Bedeutung der Feiertage ins Zentrum zu rücken. So wüsste auch ich besser, warum ich frei habe.
#18 Was vermag der Glaube?
von Deborah Mäder
Viele können klar zwischen Glauben und Nicht-Glauben unterscheiden. Ich nicht. Viele Begegnungen mit Gläubigen haben mich geprägt. Eine davon erst kürzlich: Ali begegnet mir am Seeufer bei der Chinawiese, wo er mit voller Überzeugung die gebrochene Sehne im Fuss meiner Begleitung heilen will. Als es nicht klappt, versichert er uns, dass das die Ausnahme sei. Der gebürtige Moslem erzählt mir, wie er mehrere Unfälle mit dem Motorrad überlebt, sich zu seinem neuen Glauben bekannt hat und jetzt seine Aufgabe Gottes erfüllt.
Auch Yael, wie eine Schwester für mich, erzählt mir oft, wie sie aus dem Drogensumpf durch den Glauben in Gott wieder auf die Beine gekommen ist. Durch ihr Glaubensbekenntnis sehe sie jetzt mehr Farben als vorhin. Obwohl ich persönlich viele Schattenseiten in Kirchengemeinschaften sehe, bin ich überzeugt von dem, was andere als «Wunder Gottes» beschreiben: Solange man an etwas glaubt, schafft man alles.
#19 Was ist den Reformierten heilig?
von Anaïs Rufer
Die Reformatoren haben die Heiligen vom Sockel gestossen, Kirchen wurden als Suppenküchen genutzt. Was ist den Reformierten eigentlich noch heilig?
«Gott. Nicht mehr und nicht weniger», antwortet Monika Frieden, Pfarrerin am Grossmünster, spontan. Doch im Laufe unseres Gesprächs kommt ihr noch viel mehr in den Sinn. Sie erklärt, alle Menschen seien als Gotteskinder «geheiligt» – es gebe keine Hierarchie bei den Reformierten, und deswegen habe Zwingli die Heilige Schrift, die nicht in Buchform, sondern im Lebensvollzug heilig sei, für alle verständlich zu übersetzen. Wenn Gläubige zusammenkämen, wie bei Taufe oder Abendmahl, «dann passiert heilig», weil Gott «geschieht». Alltag sei nicht getrennt vom Heiligen. Nach dem Abendmahl teile man seit der Reformation Suppe für die Armen aus. Das Heilige werde in der Adventszeit in Jesus Christus erwartet. Das Grossmünster als Gebäude sei nicht heilig, was es zu einer Kirche mache, sei das Zusammenkommen vor Gott. Und kämen Touristen an diesem Hotspot vorbei, könne auf die Möglichkeit der Begegnung mit «Heiligem» im Kirchenraum hingewiesen werden.
#20 Welche Schatten wirft die Reformation?
von Debora Mäder
Die Reformation ist eine Erfolgsgeschichte. Wirklich? Eine Ausstellung lenkt den Blick auf die dunklen Seiten der Erneuerungsbewegung und benennt jene, die unter die Räder kamen.
500 Jahre Reformation werden als eindrückliche Erfolgsgeschichte gefeiert, die neue kirchliche sowie politische Verhältnisse mit sich brachte. Ich habe in diesem Jahr viel über Demokratie, Gleichheit, Menschenrechte und wirtschaftlichen Boom gehört. Schlagworte, die alle auch mit der Reformation zu tun haben. Doch: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Ging doch vieles vergessen, was die Reformation auch zu verantworten hat. Ein verheerendes Beispiel sind etwa die Nonnen, die keinen Platz mehr in der neuen Kirche fanden. Das nahmen sie nicht einfach so hin und wehrten sich. Die Reformationsphase war sehr turbulent, was ganz klar auch viele Leichen und auch Aufstände mit sich brachte. In der Ausstellung im Stadthaus von Zürich habe ich über verschiedene solcher dunkler Ereignisse erfahren. Einerseits brachte sie mich dazu, mich noch mehr mit dem Ausmass der Reformation zu befassen, andererseits die Feierlichkeiten des Jahres 2018 auch infrage zu stellen.
#21 Was feiert ihr an Weihnachten?
von Jules Schwarz
Der Vater findet Weihnachten mühsam, freut sich aber auf das Fleisch. Und die Mutter bastelt einen Adventskalender, obwohl die Kinder dafür schon zu gross sind.
«Wir feiern, dass wir uns alle vier wieder einmal sehen und dass es uns gut geht.» «Wir feiern aus Tradition.» «Ich gehe natürlich in die Kirche, dort singen wir.» «Wir feiern die Familie und das Zusammensein, meistens gibt es Streit, und langweilig ist es immer.» «Wir fahren in die Ferien, nach Mauritius.» «Wir feiern zweimal: einmal ganz stier mit der einen Familie, vor allem den Grosseltern zuliebe, dort sind wir nach drei Stunden fertig, und es ist mega langweilig. Bei der anderen Familie ist es spannender, dorthin kommen auch die Cousinen, die hinter dem Üetliberg wohnen.» «Ist das Leben dort anders?» «Ich glaube, es sind vor allem die Mütter, denen eine perfekte Weihnacht wichtig ist.» «Stimmt, mein Vater findet Weihnachten sehr mühsam. Er freut sich hauptsächlich aufs Fleisch.» «Meine Mutter macht mir immer noch einen Adventskalender.» «Meine auch!» «Das finde ich herzig, ja, das schon, aber ich habe ihr schon oft gesagt, dass ich unterdessen zu alt dafür bin.»
#22 Wie nehmen Kinder das Christentum wahr?
von Jules Schwarz
Axel sticht Zimtsterne aus, seine Lieblingsguetzli. Mit zaghaften Fragen versuche ich, ein Gespräch über Weihnachten und Religion zu beginnen. Axel ist begeistert von Chanukka und siebenarmigen Leuchtern. Religionsunterricht ist sein liebstes Fach, er lernt gerne andere Religionen und Bräuche kennen. Die Guetzli sind völlig vergessen, und er erzählt mir von seinem grossen Auftritt: Er spielte Posaune im Krippenspiel und lernte fleissig Luft anhalten.
An Weihnachten rede ich auch mit meinem kleinen Cousin Yannick. Auch er geht in den Unti, mit seinem Freund Gregor, der sehr gläubig ist und schon mit acht Jahren jeden Abend in der Bibel liest. Yannick erzählt mir von «komischen Sachen», die sein Freund manchmal sage, beispielsweise dass Adam und Eva aus Lehm gemacht wurden. Meine kleine Cousine möchte auch mitreden und sagt, dass Yannick nicht an Gott glaube und ihn Gregor deswegen in die Hölle verflucht habe. Das war ihm sehr unangenehm.
#23 Wie ist es so in einer Kirche?
von Mara Richter
Reformationsbeobachterin Mara Richter wagt sich etwas unsicher in die Kirche und erlebt dort eine Überraschung. Schade nur, dass sie bald wieder weg muss.
Es ist Dezember, Zürich zeigt sich von seiner kältesten Seite. Viel zu früh stehe ich vor der St.-Peter-Kirche, dem Treffpunkt für meine Verabredung. Da stehe ich auf diesem Platz, etwas unsicher, stosse dann die Türe zur Kirche auf, die sich viel leichter öffnen lässt, als ihr schweres Aussehen vermuten lässt. Einige Augenpaare richten sich auf mich. Ich wusste nicht, dass mich eine offene Tür und viele Menschen in der Kirche erwarten.
Ich setze mich auf eine Bank und schaue zu, wie wohl eine moderne Interpretation des Krippenspiels geprobt wird – mit flatternden, bunten Tüchern, viel Musik. Es scheint niemanden zu stören, dass ich da bin. Links und rechts von den Kirchenbänken hängen grosse Tafeln. Es ist eine Ausstellung zum Thema «Schatten der Reformation». Erst jetzt fällt mir die Installation auf, die zwar modern ist, sich aber erstaunlich gut in den Kirchenraum fügt: Zwei grosse, rötliche Glastropfen zieren die Decke. Schade, muss ich den Ort schon verlassen.
Schreibcoaching und Redaktion: Gina Bucher.
Das JULL geht auf das Projekt Schulhausroman zurück, das der Journalist und Schriftsteller Richard Reich und die Kulturwissenschaftlerin und Lektorin Gerda Wurzenberger entwickelt haben. Inzwischen führt das Jull gemeinsam mit Sekundarschulen, Gymnasien, Primarschulen und Berufsschulen Schreibwerkstätten durch oder produziert Hörspiele.