Mit Adolf Muschg sprach
die Journalistin und Buchautorin Gina Bucher
Sie sind vor kurzem wieder in die reformierte Kirche eingetreten – warum?
(lacht) Das hat wahrscheinlich mit dem Alter zu tun. Ich hoffe, nicht allein mit Altersschwäche und beginnender Demenz. Vielmehr habe ich unterdessen das Gefühl, dass ich die Entwicklung meiner Kindheit, die ich stets als Enge empfunden habe, in dieser Form ad acta legen kann. Weil ich erkenne, was ich diesen Wurzeln auch verdanke. Schliesslich habe ich in meinem Alter doch ein paar Daten mehr über mich und über die anderen gesammelt.
Aus welchen Motiven sind Sie denn überhaupt ausgetreten?
Demonstrativ bin ich – soweit ich mich erinnere – nie ausgetreten. Ich habe einfach irgendwann aufgehört, die Kirchensteuer zu bezahlen. Weil ich dachte, ich brauche keine Jenseits-Versicherung. Ich habe mich nicht hingestellt und mutig gesagt «Hier stehe ich, ich kann nicht anders», sondern bin im wahrsten Sinne des Wortes usegfuulet.
Hat Ihr Wiedereintritt tatsächlich mit Ihrem Alter und nicht vielmehr mit dem heutigen Zustand der Welt zu tun?
Wenn Sie so wollen, ist er tatsächlich ein politischer Akt. Weil ich ein Modell brauche für meine persönliche Kohärenz – die nur möglich ist, wenn ich lerne, mich mit ganz fundamentalen Widersprüchen zu versöhnen, ja sie humoristisch zu verhandeln. Insofern ist meine Entscheidung auch eine Verbeugung vor der Logik von Jacob Burckhardt. Das ist der Historiker, der auf der Tausendernote abgebildet ist. Seine «Weltgeschichtlichen Betrachtungen», die er in einem unveröffentlichten Vorlesungsmanuskript skizzierte, eröffneten mir eine neue Perspektive.
Inwiefern?
Er legt darin dar, dass ein Mensch Dreierlei braucht: eine gewisse Ordnung, einen guten Sinn genauso wie die Freiheit von diesen beiden Bedürfnissen. Das Bedürfnis nach der guten Ordnung kann durch den Staat verkörpert werden, jenes nach dem guten Sinn erfüllt oft die Religion. Und das Bedürfnis sich von ersteren beiden zu befreien, könne etwa die Kultur abdecken. Nun sind das absolut widersprüchliche Grundbedürfnisse, die auf die eine oder andere Art zu harmonisieren sind. Unterdrückt man diese Widersprüche oder entscheidet sich nur für ein Bedürfnis, dann entsteht ein fundamentales Ungleichgewicht – das gilt für das grosse System genauso wie für das Individuum. Ein Ungleichgewicht, das kompensiert werden muss, etwa durch die Suche nach Sündenböcken.
Freiheit allein genügt also genauso wenig?
Das Visionäre bei Burckhardt ist, dass er sagte, Freiheit untergrabe letztlich die Grundlagen von Religion und Staat. Auch, weil er die Handels- und Gewerbefreiheit zur Kultur zählte. Er attestierte deshalb der Freiheit ein viel totalitäres Potenzial als etwa dem Staat oder der Religion. Anders formuliert: die Kirche muss sich verkaufen, sie muss für ihre Gläubigen werben – genauso der Staat, der Meinungsfreiheit und Wahlrecht bewerben muss, weil diese Errungenschaften vielen seiner BürgerInnen nicht mehr so wichtig ist, solange sie am Stammtisch schimpfen dürfen.
Unterdessen ist die Religion in erstaunlich vielen Ecken der Welt erneut dominant geworden – denkt man an die Evangelikalen in Amerika, die Islamisten oder die radikalen Hinduisten.
Ja, das hätte vor Jahrzehnten wohl kaum jemand gedacht. In fast jeder Religion ist wieder ein Arm in Bewegung gekommen, der sich über den Staat, also die gute Ordnung, hinwegsetzt: Die Scharia ist wichtig, eines Muftis letzte Fatwa ist wichtig, to hell with the Zivilgesetzbuch und den Menschenrechtskonventionen. Allah hat uns gesagt, was Menschenrechte sind oder der liebe Heiland oder wer auch immer. Genau diese Haltung, die ausschliesslich auf Religion beruht, empfand ich in meiner religiösen Erziehung als Kind beengend. Entsprechend setzten viele, gerade die 68er, ihre Hoffnung auf den Staat. Wir dachten, eine gerechte Ordnung genüge, um die Welt zu verändern.
Nun kann man einwenden, dass man für ein Bekenntnis zum Glauben nicht auch unbedingt in eine Kirche eintreten muss.
Da kommt mein anderer Gleichgewichtssinn zum Tragen: Die Kirche ist heute in unserem gesellschaftlichen Chaos in einer solch unglaublichen Minderheitsposition, dass ich sie unterstützenswert finde. Klar, jeder glaubt an irgendetwas. Kaum einer aber sagt: Mein grösstes Erbe als Christ ist zum Beispiel die unmögliche Forderung der Feindesliebe. Die Bergpredigt enthält für mich Sätze, die andeutungsweise das Burckhardt'sche Dilemma darstellen.
Hilft Glauben bei der Suche nach dem Glück?
Für mein persönliches Seelenheil verspreche ich mir weder ein Schlaraffenland noch ein Paradies mit 89 Jungfrauen. Das sind lediglich Männerphantasien und kindliche Wünsche – berechtigt zwar, wie auch das Streben nach Glück. Nur ist Glück wahrscheinlich das Allerschwierigste: es verlangt einem am meisten ab. Allerdings weniger, als man tut, sondern dass man lässt. «Lassen» ist für mich deshalb eines der religiösesten Wörter überhaupt. Irgendwann muss jeder loslassen können – was man natürlich als junger Mensch nicht kann und auch nicht muss.
Heute brauchen Sie wieder eine Jenseits-Versicherung?
Nein. Aber es geht nicht ohne Religion. Sonst schaffen wir uns irgendeinen Fetisch, denn unsere ganze Phantasie, unsere Einbildungskraft ist programmiert auf eine Sinnstiftung. Das werden wir nicht los. Tiere haben das Glück, dass sie wahrscheinlich keinen Sinn brauchen für ihr Dasein. Sie sind einfach. Ihre chemischen oder biologischen Reflexe genügen für den Moment. Dem Menschen aber genügen sie nicht. Wir sind rausgefallen aus dem Zusammenhang und haben unterdessen den Planeten sogar so sehr umgestaltet, dass er in vielen Teilen der Welt nahezu unbewohnbar geworden ist. In Simbabwe oder im Jemen verrecken die Menschen, sie verhungern im Schatten der Supertechnologien … Die Weltgeschichte ist so betrachtet tatsächlich, wie Goethe einmal sagte, eine Akkumulation von Unsinn.
Dagegen hat aber doch gerade die Religion keine Chance anzukämpfen?
Das nicht, nein. Ein grosser Teil dieser Misere ist ja auch gerade wegen sogenannter religiöser Gründe entstanden. Aber welche Chance haben wir in den achtzig, oder in meinem Fall hoffentlich neunzig Jahren, die wir auf dieser Erde herumkrabbeln? Jeder versucht, selber einen guten Sinn mit einer persönlichen Note zu finden, mit der man sagen kann: Ich habe nicht umsonst gelebt. Damit er nicht in einen Erklärungsnotstand gerät. Anders gesagt: Wenn Gott es nötig hätte, geglaubt zu werden, dann würde er es nicht verdienen.