Natters Zwingli
Das Standbild Alfred Eschers vor dem Zürcher Hauptbahnhof besitzt trotz seines merkwürdigen Unterbaus und seiner heutigen Platzierung auf einer Verkehrsinsel Plausibilität und Selbstverständlichkeit. Dagegen wirkt das Denkmal für Zwingli am Chor der Wasserkirche fast plump und wie vorübergehend abgestellt. Ein kräftiger Mann mit Barett und Talar, Buch in der Rechten, Schwert wehrhaft vor sich aufgestellt in der Linken, gerader Blick in Richtung Albis gen Süd-Osten, erfüllt nun zwar die Bildkonvention vom kämpferischen Reformator. Doch Ikonologie und Standort geben bei näherem Besehen Rätsel auf.
Escher steht schon dadurch am rechten Platz, als ihm mit dem Bahnhof seine einstige Wirkungsstätte als Kulisse für den memorabilen Auftritt dient, während die Sichtachse der Bahnhofstrasse dem Denkmal feudale Gravität verleiht. Nichts davon bei Zwingli. Würden für das Denkmal um 1880 vergleichbare stadträumliche Parameter gegolten haben wie für den Industriemagnaten Escher, hätte das Zwingli-Denkmal auf der Terrasse vor der Westfassade des Münsters, der eigentlichen Wirkungsstätte des Reformators, oder vor dem Hauptportal des Gotteshauses errichtet werden müssen. Zürich hatte dies wohl geahnt. Der Platz hat zwar kein Zwingli-Bildnis, aber trägt heute immerhin getreu der Losung «sola scriptura» den Namen Zwingliplatz. Warum steht das Denkmal aber da, wo er nun steht, vor der Wasserkirche, einzig um eine niedere Einfriedung beraubt, die es in einem Karree von der Limmat auf der einen und vom Strassenverkehr auf der anderen Seite abgrenzte?
Eine Antwort lautet: Die Aufstellung und seine ikonografischen Bezüge öffnen einen Assoziationsraum, der eine hagiografische Verdichtung unterschiedlicher Narrative zur Kompensation reformatorischer Bilderlosigkeit zur Verfügung stellt. Bereits die einfache phänomenale Schicht erweitert sich zur historischen Erzählung: Schwert und Buch der Standfigur verweisen auf einen Mann der Schrift, einen Theologen mit klarem Praxisbezug, einen, der den reformatorischen Glauben gegen jede Anfeindung zu verteidigen weiss. Zwingli war Feldprediger, vertraut mit dem Waffenhandwerk, schlachterprobt seit dem Gemetzel von Marignano 1515 und mit Schwert und Kreuz in der Hand in der Schlacht am Albis – daher der Blickbezug der Denkmalfigur – beim Kloster Kappel gefallen, gevierteilt und verbrannt. Doch warum stellt er die Waffe mit der Linken vor sich? In der Rechten, der Kampfhand trägt er das Buch.
Der Betrachter darf die Vertauschung als eine Anspielung darauf deuten, dass die eigentliche Waffe des Geehrten in der Sprache, in der Schrift liegt und nicht im blanken Stahl, dessen reales Äquivalent erst wenige Jahrzehnte vor der Denkmalserrichtung an die Zürcher zurückgegeben wurde. Aber warum trägt Zwingli überhaupt ein Schwert? Das Bild vom wehrhaften Glaubenskrieger wird nun nochmals überschrieben.
Schwert und Buch gehören hagiographisch zu den Attributen des Apostel Paulus. Albrecht Dürers berühmtes Bildnis des bekehrten Christenverfolgers und Kreuzpredigers in der Münchner Pinakothek, wo ihn auch Natter studiert haben dürfte, zeigt den Heiligen mit Buch in der Rechten, gesenktem und mit Spitze auf den Boden gestelltem Schwert in der Linken. Das Zürcher Zwingli-Standbild rückt den Reformator also in eine direkte apostolische Nachfolge, die durch die christliche Logik der Blutzeugenschaft untermauert wird. Das Attribut des Paulinischen Schwerts bezieht sich nämlich nicht nur auf den soldatischen Hintergrund und metaphorisch auf die Gewandtheit und Schärfe des Wortes, sondern es ist als Richtschwert, durch das der Blutzeuge Christi das Martyrium erlitt, Heiligenattribut, Schand- und Triumphzeichen zugleich. Zwinglis Kappeler Tod durch Luzerner Soldateska wird so zum erlösungsmächtigen Märtyreropfer umgedeutet. Die Aufstellung vor dem Chor der Wasserkirche unterstreicht dies noch einmal durch das lokale frühchristliche Narrativ, nach dem auf einem bis heute dort gezeigten Findling das Geschwisterpaar Regula und Felix samt ihres ergebenen Dieners Exuperantius um ihres Glaubens Willen enthauptet worden waren.
Bekanntermassen nähert sich der Heiland am Jüngsten Tag von Osten her. Daher die Ausrichtung von Altar und Chor jeder Kirche in diese Richtung. Stellt sich Zwingli nun – auch nur als Denkmal – vor diesen Begegnungsort von Erlöser und chiliastischer Gemeinde, ist es an ihm, falschen Göttern und Propheten den Eintritt zu verwehren.