Ein Gespräch mit Peter Opitz im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Salon Zwingli»*
Das Wort «zwinglianisch» muss im heutigen Zürcherischen Sprachgebrauch für vieles herhalten. Die einen nutzen ihn, um gutschweizerische Tugenden wie Arbeitsamkeit und Bescheidenheit zu propagieren, andere wiederum, um die wahrgenommene Enge des Zürcher Sittenkorsetts anzuprangern. Laut Kirchenhistoriker Peter Opitz hat der heutige Ruf des «Zwinglianismus» wenig mit den tatsächlichen Lehren und Handlungen Huldrych Zwinglis zu tun, sondern vielmehr mit Zuschreibungen und ideologisch motivierten Appropriationen späterer Generationen, die häufig in Unkenntnis der Originalquellen erfolgten.
Was bedeutet «zwinglianisch» im heutigen Sprachgebrauch?
Das Bedeutungsfeld ist relativ gross und flexibel, aber die Bedeutungen gehen alle in eine ähnliche Richtung: Das Spektrum reicht je nach Zusammenhang von «humorlos» über «fleissig», «bescheiden» bis zu «pflichtbewusst». Weiter meint es auch «streng» und «unterdrückerisch», «kleinkariert», «lustfeindlich» oder «historisch». Diese Bedeutungen lassen überdies eine gewisse Synonymie mit dem Adjektiv «schweizerisch» erkennen.
Wird das Wort auch in Deutschland so verwendet oder handelt es sich um eine typisch schweizerische Wortprägung?
Der Name Zwingli ist in Deutschland in konservativ-lutherischen Kreisen nach wie vor äusserst negativ konnotiert, aber anders als in der Schweiz. Hier meint man mit «zwinglianisch» das, was zu liberal ist, die Glaubenssubstanz aufweicht, die Sakralität des Gottesdienstes vernichtet und so weiter. Ich habe mich gefragt, ob es umgekehrt auch ein vergleichbares Wort «lutherisch» oder «lutheranisch» gibt. Tatsächlich ist aber dieser Begriff von denen, die ihn benützen, durchwegs positiv besetzt, ein geflügeltes Wort ist daraus nicht geworden.
Wie haben sich die unterschiedlichen Zwingli-Interpretationen im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet? Wie wurde er zum Beispiel in seiner Zeit wahrgenommen?
In der ersten Zwingli-Biografie von Oswald Myconius, einem Freund Zwinglis, spricht dieser von einer gotterfüllten Gestalt, wie es sie sonst kaum gegeben habe. Johannes Eck dagegen schreibt zeitgleich, Zwingli sei gottlos und unverschämt. Auch Martin Luther verkündet, dass die Zwinglianer nicht zu dulden, sondern des Landes zu verweisen seien und meldet sich zu Wort: «Vor solchen Predigten muss man warnen, wie vor dem leibhaftigen Teufel selber».
Blieb dieses Bild des gottlosen und unverschämten Predigers später erhalten?
Im 17. Jahrhundert folgt eine Zeit der europaweiten Orthodoxie, der Rechtgläubigkeit. Der Glaube, das sogenannte wahre Christentum, wird in bestimmte theologische Formeln gefasst. Die Orthodoxen in der Schweiz müssen Zwingli entweder zurechtbiegen oder verleugnen, um ihn für die Orthodoxie brauchbar zu machen. Das lässt seine echten Ansichten und seine Bedeutung in den Hintergrund treten. Im 17. und 18. Jahrhundert kommt in der Schweiz der aus Deutschland überschwappende Pietismus auf, eine weite Teile der Kirche erobernde Frömmigkeitsbewegung, die sich vor allem auf Luthers Lehre beruft. Luther scheint durch seine Schilderungen persönlicher Erfahrungen, wie innere Seelenkämpfe oder sein Bekehrungserlebnis, greifbarer als Zwingli zu sein. Zwingli schreibt nüchtern und lässt nur selten Persönliches in seine Schriften einfliessen. Dies hat zur Folge, dass Zwingli auch in der Schweiz etwas in Vergessenheit gerät.
Wie wurde er später «wiederentdeckt»?
Im 18. Jahrhundert sehen und feiern die Aufklärer die Reformation im Licht der Vernunft. Auch im 19. Jahrhundert ist Zwingli Vorreiter der Aufgeklärten und Liberalen, dafür eignet er sich besser als Luther. Die Zwingli-Forscher Melchior Schuler und Johannes Schulthess etwa, rühmten Zwingli anlässlich des Reformationsjubiläums von 1819 für seinen Freisinn und seine Vaterlandliebe – damals besonders lobenswerte Tugenden. Möglicherweise liegt in diesen Tugenden der Ursprung für das heute eher negative Bild Zwinglis. Im Zug des allgemeinen Monumenten-Trends wird Zwingli 1885 in Zürich ein Denkmal gesetzt, bei dem das Staatsmännische und die heldenhafte Befreiung im Vordergrund stehen, die Bibel zur Nebensache wird. Im 20. Jahrhundert bezeichnet ein katholischer Historiker Zwingli als zielbewussten und rücksichtslosen Autokraten, als einen machtbesessenen Mann der sich die Zerstörung der historischen Grundlage und Erscheinung der römisch-katholischen Kirche zum Ziel gesetzt hat. Zeitgleich bedient sich aber auch der religiöse Sozialismus an Zwingli und bezeichnet ihn als bedeutendsten Klassenkämpfer der Vergangenheit.
Warum haben sich die Schweizer Aufklärer, also Personen wie Bodmer, Lavater oder Pestalozzi nicht stärker für Zwingli eingesetzt und ihn zum Patron ihrer eigenen Ideen gemacht?
Das Problem liegt darin, dass die Leute Zwingli während des Liberalismus zwar positiv darstellen und beurteilen, seine Schriften aber nicht wirklich lesen, was mindestens teilweise auch an der Editionslage liegt. Erst Schuler und Schulthess gehen zurück zu den originalen Quellen und fertigen kritische Editionen an.
Und in Deutschland?
In der deutschen Geschichtsschreibung kommt Zwingli fast immer schlecht weg, nicht zuletzt, weil auch die heutige Wahrnehmung noch stark von Luthers Polemik geprägt ist. Selbst auf der offiziellen Website luther2017 wird Luther ohne Erwähnung seiner Schattenseiten gefeiert und Zwingli kurz abgehandelt, als kriegstreiberische und Täufer mordende Karikatur. Hier gibt es also für die Forschung noch sehr viel zu tun, zumal viele der verzerrten Darstellungen – auch in Lehrbüchern – nur möglich sind aus Unkenntnis der Texte und des kulturellen Umfeldes, wegen der Fixierung auf die Einzelperson Zwingli und weil häufig nicht nur falsche Antworten gegeben, sondern schon die falschen Fragen gestellt werden.
Wieso wurde Zwingli in der Schweiz im Rahmen der geistigen Landesverteidigung nicht als weltoffener und toleranter Ahnvater herbeizitiert – in Abgrenzung vom deutschen Faschismus, der sich beim Antisemitismus von Luther bediente?
Dagegen sprach sicherlich der nach wie vor grossen Anteil von Katholiken in der Schweiz, aber auch die Tatsache, dass Zwingli stark den liberalen politischen Vordenkern zugeordnet wird – er kann also nicht für alle gelten. Vermutlich liegt die Erklärung für den schlechten Ruf des «Zwinglianismus» im radikalen Übergang von der Orthodoxie zur Aufklärung. Die Orthodoxie hat bis Mitte des 18. Jahrhunderts ganz klar festgelegte Lebensregeln, dazu gehört unter anderem auch die Zensur. Zeitgleich gibt es freie, durch Frankreich inspirierte Denker. «Zwinglianisch» wäre somit eine Art Prädikat für das repressive Regime, in dem Staat und Kirche gemeinsam versuchen, die freien Geister zu verhindern. Das finstere Orthodoxiezeitalter wird so mit «zwinglianisch» verknüpft. Damit wären Ansichten, die in Richtung Offenheit und Diskursfreude weisen, als geflügeltes Wort in ihr Gegenteil verkehrt worden. Das radikale Missverständnis des Schulterschlusses der Orthodoxie mit Zwingli ist jedoch überhaupt erst in der Tatsache begründet, dass man seine Schriften gar nicht gelesen hatte.
*Die von Plinio Bachmann verantwortete Veranstaltungsreihe «Salon Zwingli» richtete sich zwischen September und Weihnachten 2016 an alle Personen, die am Jubiläum «500 Jahre Zürcher Reformation» aktiv beteiligt sind oder ihm nahestehen, mit dem Ziel, die unterschiedlichen Einzelvorhaben zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen. Der Salon lud mit Expertenreferaten, Diskussionen und Projektpräsentationen zum Austausch von Wissen und Ideen, machte die Gesamtverantwortlichen und ihr Programmkonzept greifbar und half mit, die eigene Position innerhalb des Ganzen zu verorten.