Wie der Konflikt zum Verschwinden gebracht werden kann
Sprache strukturiert die Welt, aber nicht über einzelne Begriffe, sondern über die vernetzten Strukturen, die sich in den Texten abbilden und in die all das Gehörte, Gelernte und Gesprochene aus dem Leben eingeht. Stützt sich die Interpretation von theologischen Formulierungen, speziell von Bekenntnistexten nur auf die vorliegenden Begriffe, verfällt man leicht der Verführung von Homologien, d.h. man wertet das Vorliegen gleicher Begriffe als Einigkeit im Verständnis. Diesem Fehler scheint die Reformationsforschung im 20. Jahrhundert weithin verfallen zu sein. So schrieb – als Beispiel unter vielen – Fritz Büsser 1960: «Neben die römische Kirche trat eine allein auf die Heilige Schrift formell, auf die Rechtfertigung aus Glauben allein materiell [d.h. als Kriterium der Wahrheit] sich gründende evangelische oder protestantische Kirche.» Es wurde nicht ernstgenommen, dass die Bibel bei Luther und Zwingli sehr verschieden behandelt wird und dass bei Zwingli von einer «materiellen» Stützung auf eine «Rechtfertigung aus Glauben allein» nicht im Sinne Luthers gesprochen werden kann.
Die Folge dieser harmonisierenden Sichtweise war, dass Zwinglis revolutionäre Theologie abgeschwächt und unwirksam gemacht wurde.
Gescheiterte Vermittlung: Marburg 1529
Seitdem in Zürich auf Ostern 1525 die Messe abgeschafft und das von Zwingli konzipierte Abendmahl gefeiert wurde, begannen Auseinandersetzungen mit Luther über die neuen kirchlichen Formen. Da der Streit eskalierte und die Protestanten politisch gefährdete, hat der Landgraf Philipp von Hessen Luther und Zwingli zusammen mit ihren Delegationen nach Marburg zu Gesprächen eingeladen, um im Streit zu vermitteln und Einigkeit zu erreichen. Es ist bei den meisten Punkten gelungen, gemeinsame Formeln zu finden, nur im zentralen Punkt blieben die Gegensätze unüberwindlich: Wie ist das Wörtchen ist zu verstehen? Was bedeuten die Einsetzungsworte «Dies ist mein Leib» genau? Bedeuten diese Worte, dass der Leib von Jesus im Brot drin ist, wenigstens im Glauben, so Luther, oder ist zu verstehen, dass das Brot den Leib bedeutet, also auf Jesus hinweist, wie es Zwingli formuliert?
Ein kurzer Rückblick in die Geschichte der Messtheologie: Im Jahre 831 beschrieb Paschasius Radbertus, Theologe in Paris, dass Wein und Brot in der Messe real in Blut und Leib verwandelt würden (ich möchte darauf hinweisen, dass dies nach dem Eindringen der germanischen Völker in das weströmische Reich geschah und die Lehre sich in die Richtung der realen Verwandlung von Brot und Wein entwickelt hat). Im Jahre 1059 wurde Berengar von Tours, der ein geistiges Verständnis entwickelt hatte, durch den Kardinal Humbert genötigt, zuzugeben, dass in der Messe Leib und Blut Christi vom Priester mit den Händen angefasst und von den Empfängern mit den Zähnen zerrieben würden.
Luthers Reform der Messe
Vor diesem Hintergrund hat Luther eine einfache, entscheidende, aber nicht grundsätzliche Verschiebung vorgenommen. Anstelle der materiellen Wandlung der Elemente setzte er die unverwandelten Elemente einerseits, andererseits den Glauben daran, dass Wein und Brot im Glauben – und nur im Glauben! – wirklich Leib und Blut Jesu seien. Er bestand darauf, dass das ist das wahre Wesen der Elemente bezeichne, wie man es im Glauben, also im Gottesbezug und auf Gottes Wort, glauben müsse, während die Vernunft in dieser Frage deplatziert sei und zu schweigen habe.
Ich denke, dass – kurz angedeutet – dahinter Luthers Lebenserfahrungen stehen, die er in einem monarchistisch organisierten Umfeld gemacht hat. Seine Frage war, wie Gott, der oberste Monarch, ihm gnädig sein könne. Gnade ist das freie Recht der Fürsten und Könige. In derselben Weise wird auch Gott vorgestellt. Ein monarchistischer Gott, der den sündigen Menschen, sofern dieser sich zu ihm bekennt und ihn um Gnade bittet, nur aus reiner Gnade rechtfertigt.
Die Frage nach der Gnade hat Luther zu seiner Rechtfertigung allein aus Glauben geführt. Der Glaube an Christus und die Vereinigung mit ihm in der Abendmahlsfeier ist für Luther die einzige Möglichkeit, den souveränen und unerbittlichen Gott zur Gnade zu bewegen. Darum konnte Luther von dieser Form der Erlösung nicht abweichen und keine Abweichung akzeptieren, ohne gemäss seinem Glauben sein Heil aufs Spiel zu setzen. Um sich die Gnade zu erhalten, muss Luther auf seiner Wahrheit beharren, sie im Bekenntnis festlegen (und Zwingli als Ketzer diffamieren).
Zwingli nannte Luthers Glauben in anderem Zusammenhang «ein Verzwyflung.»
Zwinglis Abendmahlskonzeption: völlig anders
Zwingli hat einmal ganz simpel geschrieben: Wenn er in der Messe die angeblich gewandelten Wein und Brot zu sich nehme, empfinde er Wein und Brot, nicht Blut und Fleisch. Folglich seien es Wein und Brot. Denn Gott tue doch keine Wunder, schrieb er, deren niemand «inne werde». Was so simpel klingt, ist umwälzend. Deutlich ist, dass Zwingli die ausgefeilte mittelalterliche Theologie wegwischt. Die Kirche darf den Menschen nicht von ihren Lehren abhängig machen und über sie herrschen, indem sie verkündet: Eure sinnlichen Wahrnehmungen sind falsch. Zwingli ist an einer Stelle noch weitergegangen, als er schrieb, dass «wir [d.h. die Priester], wenn wir in der Messe wirklich Brot und Wein in Leib und Blut Jesu verwandeln könnten, wären dann die wahren Hexer.» (Übrigens der einzige Satz Zwinglis zu den Hexen und den Hexenverfolgungen.)
Der jüdische Hintergrund des Abendmahls
Schon aus Zwinglis einfacher Feststellung lässt sich die Vermutung ableiten, dass bei ihm Glauben anders als bei Luther zu verstehen ist. Seine einfache Abstützung auf die Richtigkeit der sinnlichen Wahrnehmung lässt an seine Beschäftigung mit der italienischen Renaissance denken, wo von der Würde des Menschen gesprochen wurde, was Zwingli aufnimmt. In der Literatur der Spätrenaissance hat Zwingli unter vielem anderen auch einiges über jüdisches Denken (etwa Hinweise auf den Talmud) lesen können. Vermutlich hat er aufgrund solcher Kenntnisse zwischen den hebräischen Texten und dem Neuen Testament eine Kontinuität angenommen, während Luther (und die bestehende Kirche) eher einen Gegensatz gesehen hat.
Unter der Voraussetzung einer Kontinuität bekommen die Wörter in den Evangelien eine andere Färbung. «Das tut zu meinem Gedächtnis» verweist auf das Pessachmahl, das auch ein Gedächtnis ist, aber so, dass es die Feiernden zurück in jenen Abend vor dem Auszug aus Ägypten führt, und die verschiedenen Elemente im Laufe der Feier – wie Trinken von Wein und Essen von Brot – dienen dazu, die Nachgeborenen in die Situation von Teilnehmern am Exodus selbst zu versetzen.
Das zwinglische Abendmahl lässt sich nach diesem Vorbild verstehen. Die Zeichen Wein und Brot bedeuten – was nun mehr Gewicht hat, als was sie sind – dass die Teilnehmenden in jene erste Feier mit Jesus als Mitfeiernde geführt werden – und in den seltsamen Exodus der Passion.
Damit werden sie mithineingenommen in den neuen Bund. Dieser Bund mit Gott macht, wie im alten Israel, die Feiernden im Moment, in dem er geschlossen wird, untereinander zu Bundesgenossen, die durch den Bund nicht nur Gott, sondern auch einander gegenseitig verpflichtet sind. Glaube und Ethik sind zwei Seiten derselben Medaille und gehören natürlicherweise untrennbar zusammen.
Zwinglis Lebenserfahrung als Hintergrund
Zum besseren Verständnis möchte ich unterstreichen, dass Bündnisse in Zwinglis Leben schon immer bestimmend gewesen sind. Denn das Toggenburg, obwohl unter dem Abt von St. Gallen stehend, war mit der Eidgenossenschaft verbündet, die bekanntlich aus einem System von Bündnissen bestand, die für die Regierungen wie für die Einzelnen verpflichtend waren. Aus diesen Bündnissen ergab sich die Regelung von Konflikten, ergab sich die Notwendigkeit, sich immer wieder zusammenzuraufen, und erfolgte die Versöhnung selbst nach einem internen Krieg. Die Geschichten der Stämme Israels müssen Zwingli vertraut vorgekommen sein, wie auch die Dichtungen der Propheten im Kampf um die Erhaltung des Bündnisses mit Gott.
In den Bündnissen der Eidgenossenschaft gibt es keine Wahrheit und keine Gnade. Wichtig sind Zuverlässigkeit, Bündnistreue und die Fähigkeit, sich zusammenzuraufen. Das heisst, sich im Trennenden, in den Verschiedenheiten zu finden. So bindet und schützt der Bund auch die Einzelnen, selbst wenn sie Probleme machen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass ein Bündnissystem bei Bedarf erweitert und verändert werden kann. Es ist offen, ohne deswegen ohne Grenzen zu sein. Zudem liegt im Eid ein religiöses Element eingeschlossen, da im Eid Gott als Schirmherr der Bündnisse angerufen wird.
Zwinglis Theologie sieht Gott als Initiator und Partner im Bündnis mit den Menschen, der die Menschen mit den Worten der Gschrift, dem Evangelium, in ihrer Vernunft anspricht, obwohl Gott jede Vernunft übersteigt. Durch das Evangelium belehrt, können sie die ihnen zugesprochene Erlösung aufnehmen und im Bündnis friedsam leben.
Schluss
Wenn ich die Verschiedenheit von Luthers und Zwinglis Konzeption von Theologie, wie jetzt anhand des Abendmahls grob skizziert, überblicke, frage ich mich, ob es nicht sinnvoll wäre, die Konzeptionen als zwei verschiedene Typen von Religion zu unterscheiden, die sich klar voneinander abheben lassen und gegensätzliche Verwandtschaften zeigen:
Einerseits Luthers monarchistische Konzeption, die mit der katholischen verwandt bleibt, die die traditionellen Formen reinigt, aber in ihrer Struktur beibehält, andererseits Zwingli, der mit der herkömmlichen Kirche vollständig gebrochen hat. Er führt eine neue Form des Gottesdienstes ein und versteht das Abendmahl so, dass in beidem die Nähe zum jüdischen Typus der Religion leicht zu erkennen ist und von Verwandtschaft gesprochen werden kann – und damit übrigens auch mit dem Islam.