Gestern fand sich folgende Nachricht in meinem Posteingang: «Liebe Frau Papst! Ich bin heute Morgen erschrocken, dass die Platten gekärchert worden sind. Ich habe beim Mailverkehr keine Zeitangaben für die Installation finden können. Wenn die Zeit abgelaufen ist, dann alles Gute für die Zukunft. Wenn die Tiefenreinigung ein Malheur ist, sollten sie sich das baldmöglichst anschauen. Herzliche Grüsse Sonja Freuler, Sigristin der Wasserkirche.»
Um diese Zeilen zu verstehen, muss man wissen, dass ich in Zusammenarbeit mit der bildenden Künstlerin Simone Fröbel und der Szenografin Annatina Huwiler auf den Platten vor der Zwinglistatue eine Installation aus Asphaltklebern angebracht hatte. Das im Rahmen von ZH-Reformation realisierte Kunstprojekt stellte historischen Ablasszahlungen zeitgenössische Mechanismen gegenüber, und sollte rund zwei Monate stehen bleiben.
Am Mythos um Luthers Thesenanschlag in Wittenberg hat mich immer fasziniert, dass er sein Anliegen mitten in die Gesellschaft getragen hat. Dass er seine Gedanken der Welt nicht nur metaphorisch sondern ganz physisch einhämmern wollte. Ich habe mir vorgestellt, wie das Dokument am Wittenberger Stadttor gelesen und kommentiert wurde, wie es von seinen Befürwortern weitererzählt oder abgeschrieben wurde. In meiner Vorstellung fügten die Gegner der Thesen dem Dokument ihre Kommentare hinzu, strichen ganze Passagen durch, überzogen es mit vulgären Zeichnungen oder rissen es gleich ganz ab. Kurz: Luther stiess damit einen öffentlichen Diskurs an.
Eine Behauptung in den öffentlichen Raum zu stellen, und sie damit für alle erdenklichen Reaktionen freizugeben, war auch eines der Kernanliegen unseres Kunstprojektes «Sündenschnäppchen». Schon am Tag der Vernissage beobachteten wir die gängigste Wirkung, die die Installation auf ihre Betrachter*innen hatte: Sie schossen Selfies mit dem Kleberpaar ihrer Wahl. Da das Zwinglidenkmal eine touristische Sehenswürdigkeit ist, fanden Bilder, auf denen die Installation zu sehen ist, ihren Weg um die globalisierte Welt und schlummern inzwischen wohl auf irgendwelchen Festplatten zwischen Brasilien und Japan.
Die zweite Reaktion, die wir erwartet hatten, traf hingegen nicht ein. Gemäss dem Gesetz der öffentlichen Toilettenwand, die solange unbeschrieben bleibt, bis jemand den ersten Strich macht, und die danach scheinbar zur öffentlichen Fläche wird, auf der jede schreiben und zeichnen darf, haben wir damit gerechnet, dass unsere beschrifteten Kleber nach wenigen Tagen von Kommentaren und Zeichnungen überzogen wären. Aber sämtliche Marker und Spraydosen dieser Stadt blieben fern und tobten stattdessen weiterhin auf Werbeflächen, Briefkästen und Bauzäunen aus.
Es war schliesslich ein Hochdruckreiniger, der sich an der Installation zu schaffen machte. Alarmiert durch die Email der Sigristin setzte ich mich in die Tram und fuhr zur Zwinglistatue. Schon aus dem Tramfenster sah ich, dass die Stadtreinigung ganze Arbeit geleistet hatte: Von den vierundzwanzig Klebern waren dreieinhalb erhalten geblieben.
Man muss dieses Eingreifen nicht als typisch für Zürich lesen. Aber es könnte interessant sein, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Leben wir in einer Stadt, in der nicht individueller Vandalismus ein Kunstwerk im öffentlichen Raum zerstört, sondern angeordneter Reinlichkeitswahn? In der man saubere Denkmäler künstlerischen Dialogen vorzieht? Ist der Zorn empörter Bürger, die - zumindest in meiner Fantasie - auf die 95 Thesen am Stadttor Wittenbergs gespuckt hatten, einem amtlichen Reinigungsunternehmen gewichen, das wegputzt, was nicht ins Bild passt? Den Einzelpersonen, die diese Arbeit verrichtet haben, ist vermutlich kein Vorwurf zu machen. Aber man darf sich schon wundern, dass «für e suubers Züri» eine Installation im öffentlichen Raum demoliert wird, an der die Stadt selbst finanziell beteiligt ist. Umgekehrt wären wir wohl belangt worden, wenn unser Kunstwerk das Denkmal beschädigt hätte.
Der Dialog, den die Installation «Sündenschnäppchen» mit dem Zwinglidenkmal einging, wurde verfrüht abgebrochen. Ein Kleber ist allerdings von der Reinigung unversehrt geblieben. Wir haben ihn als kleinen Gruss an die Stadtreinigung stehen gelassen. Er bezieht sich auf eine Sünde, die zu Zwinglis Zeiten im Ablasskatalog auftauchte: Ungeduld. Wir wünschen viel Erfolg beim Rosenkranz beten.