Ein Fegefeuer gibt es nicht, das hat Zwingli geklärt – und sich wie Martin Luther – gegen den Ablass positioniert. Durch Zwingli wurde der Ablasshandel in Zürich abgeschafft. Davor konnte man dem Fegefeuer, der «Vorhölle», durch moralisch gute Lebensführung im Sinne der Kirche entrinnen oder durch Ablasszahlungen. Der mittelalterliche Ablasshandel funktionierte nach dem Schema: Angst = Geld, Geld = Gottes Erlösung. Heute fällt die «Angst» häufig weg und die «Erlösung» muss nicht von Gott kommen, aber mit dem Ablass ist es noch nicht vorbei.
Das Fegefeuer spielt bei Formen des Ablasses im 21. Jahrhundert keine Rolle mehr. Heute geht es um Gruppendruck, das eigene Gewissen oder die Angst vor der Klimakatastrophe.
1. Ablassrückstände in den Kirchen
Auch heute kaufen KatholikInnen Marienfiguren und Orthodoxe Ikonen. Der Vorplatz des Klosters Einsiedeln ist der langweiligste Kunsthandwerkmarkt des Landes: Marienfiguren, Engel, Kreuze, Kruzifixe, Rosenkränze. An jedem einzelnen Stand! All das sind Devotionalien – vom Lateinischen «devotio» Hingabe und Ehrfurcht. Diese Gegenstände sollen also die religiöse Hingabe stärken. Sie sind aber kein Bestandteil der kirchlichen Liturgie.
Anders bei gewissen Freikirchen: Frühjahr 2016, Hallenstadion Zürich, 20-Jahr-Jubiläum der ICF-Kirche. Ich war da als Rechercheunterstützung für einen Spielfilm im freikirchlichen Milieu. Kirchengründer Leo Bigger forderte begleitet von soften Pop-Klängen ein «Geldopfer». Nein, nicht er forderte es, sondern selbstverständlich der Heiland. Zwischen und nach diesen Passagen in der «Celebration» wies Bigger auch mehrmals daraufhin, dass man die CD der Worship-Band kaufen könne. Das ICF-Geschäftsmodell beruht auf diesen sanften Druckmitteln. Antrieb ist hier aber nicht die Angst vor der Verdammnis wie zu Tetzels Zeiten, sondern die Liebe zu Gott, die Verbundenheit mit der Gemeinschaft. Positiver Druck halt. Dafür gibt es international noch absurdere Vorbilder: Der amerikanische Fernsehprediger Creflo Dollar, kein Scheiss, der heisst so – sammelte 2015 65 Millionen US-Dollar von seinen AnhängerInnen für einen Privatjet.
2. Ablass für Geld
Ein Jahr danach in der Samsung Hall, dem neuen Gotteshaus des ICF, sprach am Samstagmorgen ein ganz anderer Prediger: Jordan Belfort. Jordan Belfort ist das Vorbild für den Real Wolf of Wallstreet im gleichnamigen Leonardo di Caprio-Film. Belfort trat mit einfachen Botschaften auf. You have to persuade the buyer. Und: You have to think big. Belforts einziger Inhalt war absurderweise, wie man Leuten das Geld aus der Tasche zieht. Belfort ist ein absurdes Überbleibsel des 80er-Jahre Raubtierkapitalismus, ein verurteilter Betrüger, der Leute zum Betrügen anspornt.
Ob seine Zuhörer (vor allem Männer) reich geworden sind, bleibt offen. Für Belfort ist die Rechnung aufgegangen. Die Veranstaltung war gut gefüllt und die Tickets kosteten teilweise mehr als 3000 Franken. Belfort zeigt die positive Umdrehung des Tetzel-Prinzips nackt und ehrlich auf: Du verkaufst den Leuten Hoffnung. Sie sind geneigt dir zu glauben, weil sie: a) früh aufgestanden sind b) einen Eintrittspreis bezahlt haben c) sich mit den anderen BesucherInnnen verbunden fühlen.
3. Ablass für ein besseres Leben
Nicht minder bullig, aber ein bisschen mehr Inhalt hat Tony Robbins. Robbins will seinen AnhängerInnen ein «besseres Leben» ermöglichen. Ihnen helfen, das «eigene Potenzial auszuschöpfen». Seine Workshops bestehen aus Zehn-Tages-Marathons à 12 Stunden. Robbins ist zweifelsohne sehr begabt im Dauersprechen, hat prominente Testimonials von TV-ModeratorInnen bis zu Bill Clinton. Ähnlich wie Belfort fordert er erst einmal Geld. Ist die Teilnahmegebühr bezahlt, geht es um die physische Gemeinschaft vor Ort. Ein Organisationskoloss aus Kleingruppen sorgt dafür, dass sich alle vor einem seiner MitarbeiterInnen entblössen. Das dort Erzählte – so ist es in der ersten unabhängigen Doku seiner Workshops zu sehen – geben die MitarbeiterInnen Robbins weiter. Der wählt einzelne TeilnehmerInnen im Plenum aus, bringt sie dazu vor Kamera ihre Beziehung zu beenden oder über ihre persönlichen Abgründe zu sprechen. Sie tun das – nachdem sie sich teilweise finanziell vorausgabt haben. Sie tun das, weil sie sich ihr Vertrauen in Robbins auch erkauft haben. Sie tun das, weil sie ja dumm wären, hätten sie so viel Geld in hohle Phrasen investiert. Die Workshops müssen ja eine Wirkung haben.
4. Blanker Konsum
Natürlich braucht es gar keine Prediger – oder weltliche Stellvertreter/innen Marke Jordan Belfort oder Tony Robbins. Man kann den Ablass auch mit sich selbst und den Marketingversprechen mancher Unternehmen ausmachen. Der Konsum ist die Sünde; der Ablass besteht im Aufpreis, den man zahlt. Für Bio-Kekse, Demeter-Gurken oder Öko-Badreiniger. Natürlich ist es sinnvoller Öko-Badreiniger zu kaufen, als giftige Billigprodukte. Natürlich ist es sinnvoller nachhaltig produzierte Jesus-Latschen zu kaufen als Plastik-Flipflops aus China. Aber Konsum bleibt Konsum. Im allerbesten, allerseltensten Fall ist seine Wirkung klimaneutral und ermöglichte jemandem Arbeit zu fairen Bedingungen. Mehr aber auch nicht. Er verhindert die Klimakatastrophe nicht. Kaufrausch ist niemals gesellschaftliches Engagement.
5. Flugreisen
Wer fliegt, kann das ausgestossene CO2 für wenige Franken Aufpreis kompensieren. Die verschiedenen Anbieter von CO2-Kompensationen sind alle nur einen Klick entfernt und wer einen Flug mit schlechtem Gewissen bucht, wagt diesen Klick. Da hoppt man für drei Tage Tapas und Sangria nach Barcelona und dafür werden etwa Haushalte in Ruanda mit Öfen ausgestattet, die Brennholz sparen. Sicher nicht falsch, das zu tun, aber es wäre besser gar nicht zu fliegen. Einige Anbieter bieten Kompensationen nach veralteten Standards; andere verkaufen Kompensationen in der Zukunft. Und auch diejenigen mit den besten Beurteilungen der deutschen Stiftung Warentest (Link) können nicht verhindern, dass man beim Flug Zürich-Barcelona retour erst mal 422 Kilogramm CO2 ausstsst.
6. Bequemes Engagement
Man zahlt zumindest nix drauf, wenn man die xte Petition gegen eine Öl-Pipeline am anderen Ende der Welt unterschreibt oder ein Foto der Abfallinseln im Pazifik auf Facebook teilt. Man darf das tun. Mehr als Gewissensberuhigung ist es aber nicht.
Bonus: Reformations-Chic
Das deutsche Reformationsjubiläum 2017 trieb auch den Konsum an und verhalf einer alten Marke zu neuem Auftrieb: Luther. Im Sortiment sind: die bekannte Luther-Playmobil-Figur, Luthersocken – für Handy oder Fuss, Luther-Tassen, Luther-Kekse, Luther-Biere, Luther-Musicals, Luther-Badeenten und Katharina's Kaffeekränzchen-Likör, nur echt mit Deppenapostroph und besser bekannt als: Luther-Likör. Die verkaufbare Marke Luther ist schon alt. Bereits beim 300-Jahr-Jubiläum 1817 gab es Luther-Bettwäsche und Luther-Tabakpfeifen.
All diese Produkte haben keine sakrale Dimension und nichts mit Ablass zu tun, aber es ist eine Pointe für sich, dass der Reformator, der gegen die Kommerzialisierung der Kirche angetreten ist, mittlerweile selbst Konsumprodukt ist.
Anders der Zürcher Reformator: Ein Metzger in Turbenthal produziert die Zwingli-Wurst. Ein US-Händler bietet Sticker mit den Namen aller Reformatoren an: «Luther, Calvin, Knox & Zwingli» Zwingli ist der letzte in der Liste. Das ist dann schon alles Zwingli-Merchandise. Zwingli wird anscheinend kaum vermarktet – am ehesten noch durch die Jubiläumsveranstaltungen. Aber die laden immerhin zur inhaltlichen Auseinandersetzung ein.