Der Islam als europäisches Selbstgespräch
Eine nützliche Perspektive auf die europäischen Auseinandersetzungen mit dem Islam ist es, sich immer wieder bewusst zu machen, dass ein Grossteil der Texte im Modus des Selbstgesprächs oder der Selbstbefragung entstanden ist. Dies gilt gerade auch für das Zeitalter der Reformation.
Für die Verbreitung reformatorischer Schriften war der Buchdruck von entscheidender Bedeutung. Neben Erasmus von Rotterdam führten Autoren wie Luther oder Melanchthon die frühneuzeitlichen Bestsellerlisten an. Der Buchdruck war ebenso zentral für die Ausbildung einer ersten politischen Öffentlichkeit, die unter einem besonderen Vorzeichen stand: dem Türkenkrieg. Parallel zum Begriff der reformatorischen spricht die Historikerin Karoline Döring daher explizit von einer Türkenkriegsöffentlichkeit.
Türkenkriege als mediales Ereignis
Die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich waren für einige Herrschaftsgebiete, vor allem für die ungarische Krone, die Republik Venedig und die Habsburgermonarchie, eine kriegerische Realität. Die Osmanische Expansion war jedoch nie jene allumfassende Bedrohung «ganz Europas», als die sie uns in den Feuilletons immer mal wieder begegnet. Frankreich etwa paktierte mit den Osmanen gegen die Habsburger. Kein englischer König wird je ernsthaft vor den Osmanen gezittert haben. Vielmehr integrierte er sie in seine kontinentalen Ränke. So waren die Türkenkriege denn für weite Teile Europas vor allem eines: ein mediales Ereignis. Und wie in jedem medialen Ereignis lassen sich je nach Gebiet die lokalen Machtverhältnisse und Interessenkonflikte herauslesen, werden in der Berichterstattung eigene Positionen gefestigt und unliebsame Ansichten in Misskredit gebracht.
Erfindung des Europäers
Die Kriege mit dem Osmanischen Reich führten neben der medialen Aufbereitung aber auch zu einem Bedürfnis nach mehr gesicherten und vertieften Informationen. Man begann Wissen über den Feind zu sammeln. Gerade dieses zusehends sich systematisierende Wissenskorpus wurde, wie die Historikerin Almut Höfert herausgearbeitet hat, zu einem Spiegel, indem man am Schluss sich selbst entdeckte. Anhand der Formung des Feindbildes der Türken formte man sich selbst als anthropologischen Gegenstand, als christliches Europa. Etwas zugespitzt: In der Auseinandersetzung mit den Türken erfanden sich die Europäer.
Bullingers «Türgg» schärft das eigene evangelische Profil
Heinrich Bullingers Schriften zum Islam fügen sich ein in die beschriebenen Kontexte. Damaris Grimmsmann hat in den Predigten des Zürcher Reformatoren und Zwingli-Nachfolgers sechzehn Verweise auf den Islam gefunden, wobei sich acht Stellen mit aktuelle politische Bedrohung» und weitere acht Stellen mit «Glaubensinhalt» beschlagworten lassen. An Bullingers Darstellungen falle ingesamt auf, dass es ihm nie um eine objektive Darstellung muslimischer Glaubensinhalte gegangen sei, sondern stets um die Rechtfertigung, dass «allein der Christen Gloub ist und blypt der waar Gloub.» Über seine Kontakte nach Ungarn war Bullinger zwar ein überaus informierter Zeitgenosse und er verfolgte das machtpolitische Geschehen genau. In der Praxis aber diente ihm «der Türgg», wie es damals hiess, hauptsächlich zur Schärfung des eigenen evangelischen Profils, zur Stärkung des Zusammenhalts in der Gemeinde.
Endzeitvisionen – gestern und heute
Diese Haltung ist Bullinger nicht vorzuwerfen. Sie entspricht sowohl dem Zeitgeist wie der Regel. Jeder sah den Islam, wie er ihn sehen wollte. Mit Francesco Cardini gesprochen: Die Türken spielten eine ebenso zentrale wie vieldeutige Rolle. Martin Luther, der sich selbst als Werkzeug Gottes verstand und das Ende der Zeiten rasant nahen sah, beschreibt die Türken als Strafrute einer unbussfertige Christenheit. Auch Luthers Wittenberger Kollege Melanchthon sieht sie als Vorboten des Antichrist. Für die christlichen Vorstellungen zum Weltuntergang lieferte immer schon das Buch Daniel wichtige Anregungen. Das in Daniel 7,8 beschriebene kleine Horn galt dem Reformatoren Melanchthon als Vorankündigung der Osmanischen Expansion und damit als Hinweis auf die nahe Endzeit. Daniels Vision im Wortlaut: «Und ich gab acht auf die Hörner, siehe, da wuchs zwischen ihnen noch ein kleineres Horn empor, und drei von den ersten Hörnern wurden vor ihm ausgerissen; und siehe, an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das redete grosse Dinge.» Ob nun der Islam dieses kleine Horn sei oder nicht, gerade in jüngster Zeit hat die Frage in den einschlägigen Internetforen wieder Konjunktur. Der Adventist P. Gerard Damsteegt kam zwar vor einigen Jahren nach einer eingehenden Analyse zum Schluss, dass nur vier der zwölf Kennzeichen des kleinen Horns auf den Islam anwendbar seien und der Islam daher nicht als Erfüllung der Prophezeiung gelten könne. Davon lässt sich aber Joel Richardson, ein populärer Endzeittheoretiker und Evangelist, nicht abhalten. Daniels Vision vom Horn bewahrheite sich just dieser Tage in Iran und Irak, schreibt er in seinem Blogeintrag vom 14. Juni diesen Jahres. Man greife daher zum Buche Daniel – am besten gleich jetzt.
Christen-Bashing via Türkenlob
Im Verlauf des 16. Jahrhunderts nuanciert sich das Islambild. Zur Türkengefahr gesellt sich die Türkenhoffnung: Die Vorstellung eines besseren Lebens unter einer türkischen Besatzung als unter der gegebenen christlichen Herrschaft. Und mit dem Nachlassen der militärischen Auseinandersetzungen gehörte bald nicht mehr nur die Verteufelung der Türken und ihrer Türkenbibel, wie Muslime allgemein und der Koran genannt wurden, zur innerchristlichen Polemik. Es entbrannte im Gegenteil ein Wettstreit, in Schriften und Pamphleten die Ungläubigen mit moralischem Lob zu überschütten, um so rhetorisch den eigentlichen Gegner, das katholische respektive das reformierte Lager, herabzusetzen.
Minarett-Verbot als Selbstgespräch
Einige dieser historischen Selbstbefragungen und Standortbestimmungen im Angesicht des Islam muten heute kruder, andere scharfsinniger an. Das Gedankenexperiment in die Gegenwart zu tragen, ist dabei eine nützliche Übung. Oft genug redet man unter dem Schlagwort Islam auch heute vor allem über eigene Befindlichkeiten, Wünsche, Ansprüche. Dies ist, zumindest streckenweise, ein legitimer Vorgang. Man sollte sich des Modus des Selbstgesprächs jedoch bewusst sein. Wir leben heute in einem vor Minaretten beschützten Land. Man mag dies Symbolpolitik nennen. Man mag vom Ernstnehmen der Ängste der Bürgerinnen und Bürger reden. Ich muss an ein Selbstgespräch denken. Selbstgespräche und Selbstbefragungen in Zeitungen und auf Podien zu führen oder zur Profilierung des Parteiprofils zu verwenden ist dabei das eine. Mit grossen Geldsummen nationale Urnengänge heraufzubeschwören und symbolische Selbstgesprächsprosa in der Verfassung zu verankern das andere. Sich der eigenen Gegenwart verstehend zu nähern ist ein unheimlich schwieriges Geschäft. Es ist auf jeden Fall ratsam, sich dabei nicht zu stark von den kleinen Hörnern der Danielschen Prophezeiung ablenken zu lassen.
Joël László, 1982 in Zürich geboren, schreibt Theaterstücke und Prosa und arbeitet als Übersetzer. Er studierte Islamwissenschaft und Geschichte und lebte längere Zeit in Kairo. In der Spielzeit 2017/18 ist Joël László Hausautor am Theater Basel und schrieb für die dortige Reihe «Paradise Lost» den Text «Islam.Fantasien». Im Rahmen von ZH-Reformation wird sein Stück «Zwingli.Wars» uraufgeführt, das in der Konfrontation des Täufers Felix Mantz mit Ulrich Zwingli den utopischen Glutkern der Zürcher Reformation aufblitzen lässt.