Religionskriege und ein Putsch
Während gemeinhin die Dada-Bewegung, der Aufenthalt Lenins oder vielleicht noch der von James Joyce, Thomas Mann oder Tina Turner als historische Ereignisse Zürichs von Rang gewertet werden, vergisst man gerne zwei Begebenheiten, die mindestens so nachdrücklich ihre Spur auf der weltgeschichtlichen Bühne hinterlassen haben, dazu aber nicht Zugereiste als Akteure zeigen, sondern die Zürcher selbst: Zum Einen verdankt die Welt nach der Christenverfolgung, der islamischen Expansion, den Kreuzzügen und den Hussitenkriegen Zürich den ersten Konfessionskrieg der modernen Neuzeit, die Kappeler-Kriege 1529 und 1531, zum anderen das schöne Wort Putsch, das mit dem sogenannten Zürich-Putsch 300 Jahre später geprägt werden sollte und über die Tagespresse in alle Weltsprachen einging.
Tatsächlich stehen der erste Konfessionskrieg der Moderne und der Begriff Putsch in einem klandestinen Zusammenhang. In beiden militärischen Auseinandersetzungen entzündeten sich die Gegensätze von Stadt und Land, von Tradition und Moderne, bewährten sich oder versagten neue und alte Gemeinschaften und Bündnisse, wobei religiöse Bekenntnisse, Zeichen und Rituale Motivationen und symbolischen Zusammenhalt boten.
Brot und Milch
Mit der Reformation in den Eidgenössischen Orten setzten sich kurz nach 1500 tendenziell bürgerliche Gemeinschaften gegen feudale Herrschaftsausübung durch. Die Spannungen zwischen den offen reformatorischen Städten und den katholischen Orten entluden sich im Ersten Kappeler Krieg 1529, der diese Bezeichnung nicht ganz zu Recht trägt, denn bei jener Auseinandersetzung kam es zu keinen direkten Kampfhandlungen. 1529 ging auf Betreiben Huldrych Zwinglis die Stadt Zürich mit dem protestantischen Bistum Konstanz einen Bund ein, der in erster Linie als kalkulierter Affront gegen Österreich und das Haus Habsburg und in zweiter Linie gegen die katholischen Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug gewertet werden musste, die sich nun ihrerseits gegen die reformierten Städte verbündeten. Zwinglis Kalkül bestand darin, durch einen präventiven Waffengang den Gegner zu neutralisieren. Den Zürchern fehlte dazu nur noch ein Kriegsgrund. Den lieferten im Mai 1529 die Schwyzer. Sie verbrannten den reformierten Pfarrer Jakob Kaiser als Ketzer, nachdem die Zürcher ein Jahr zuvor einen katholischen Feldweibel hatten hinrichten lassen.
Anfang Juni machten Zürcher und Berner gegen die altgläubigen Orte mobil. Sie zogen mit annähernd 12.000 Mann über den Höhenzug des Albis auf die Hochebene beim Kloster Kappel, wo sie 9.000 Katholiken gegenüberstanden, wobei neutrale Innerschweizer Orte bereits Vermittlungsdiplomatie betrieben. Sie verhinderten eine blutige Auseinandersetzung, die bei der damaligen Kriegsführung hunderte Tote, grauenvoll Verstümmelte und psychische Wracks bedeutet hätte. Kampflos wurde am 26. Juni 1529 der erste Kappeler Landfriede geschlossen, der Friede, der, wie es die Fama will, durch ein eucharistisches Versöhnungsessen von Brot und Milch, die Kappeler Milchsuppe, besiegelt wird.
Die Vereinbarungen sind bis heute vorbildlich: Jede Gemeinde durfte autonom durch Mehrheitsbeschluss den alten oder neuen Glauben annehmen. Und ebenso wie die Reformation in der Eidgenossenschaft durch die fünf katholischen Orte formell anerkannt wurde erhielten diese im Gegenzug ihren Glauben garantiert. Somit wurde hier zum ersten Mal in der Geschichte das friedliche und gleichwertige Nebeneinander der zerstrittenen Konfessionen besiegelt.
Der Zweite Kappeler Krieg
Der Kappeler Friede war vor allem durch das Mehrheitsprinzip brüchig. Zudem führte die Confessio Augustana des Reichstags 1530 zu Misstrauen zwischen Katholiken und Reformierten auch in der Schweiz. So wurde Zürich vorgeworfen, sich neue Gebiete einverleiben zu wollen. Als die katholischen Orte vertraglich geregelte Waffenhilfe gegen Mailand verweigerten, drängte Zürich auf einen neuen Waffengang. Die verbündeten Orte blieben zurückhaltend. Sie verhängten lediglich eine Lebensmittelsperre gegen die inneren Orte, worauf diese am 9. Oktober 1531 Zürich den Krieg erklärten. Zwei Tage später kam es zur erneuten militärischen Konfrontation am Kloster Kappel, bei der die schlecht geführten Zürcher von den altgläubigen Orten vernichtend geschlagen wurden. Zwingli wurde am folgenden Tag schwer verletzt nach einem Standgericht auf dem Schlachtfeld als Ketzer gevierteilt und verbrannt. Helm, Schwert und weitere Waffen, die man ihm zuordnete, wurden als Trophäen nach Luzern verbracht, bis sie als Zeichen der Versöhnung 1848 an Zürich abgegeben wurden.
Zwar war nun mit dem Zweiten Kappeler Landfrieden eine weitere Ausbreitung der Reformation in der deutschsprachigen Schweiz undenkbar. Dennoch blieb es bei der gegenseitigen Anerkennung. Man lebte in misstrauischer doch friedlicher Koexistenz. Die Katastrophen des Dreissigjährigen Krieges gingen an der Eidgenossenschaft vorüber und es sollte fast zweihundert Jahre dauern, bis religiöse Motive wieder zu Waffengängen führten.
Putsch
Putsch meint im Alemannischen einen Stoss, einen Zusammenprall zweier Gegenstände. Im Englischen, Französischen, Russischen und Hochdeutschen einen Staatsstreich. Dreihundert Jahre nach der Zürcher Reformation geht es bei dem Putsch 1839, der das Wort populär macht, wieder um eine neue Gemeinde, einen neuen und einen alten Bund, Mitbestimmung und Partizipation. Doch diesmal stehen sich nicht Konfessionen gegenüber, sondern Bürger und Bauern, Stadt und Land, die sich um Vernunft und rechten Glauben streiten. Der Kanton Zürich hatte am 10. März 1831 nach dem Vorbild der französischen Juni-Revolution eine radikal-liberale Verfassung in Kraft gesetzt, die Volkssouveränität, Glaubens- und Pressefreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit, Gewaltenteilung, Säkularisierung des Bildungswesens und andere liberale Postulate wie die Aufhebung der Gegensätze von Stadt und Land durchzusetzen suchte. Ein sichtbares Zeichen hierfür: man schleifte die Stadtbefestigungen und Mauern, jahrhundertelang Sinnbild der städtischen Macht und der Abgrenzung zwischen Stadt und Landschaft. Vor allem aber sollte das Bildungswesen und die Kirche erneuert werden. Im April 1833 wurde die Universität Zürich gegründet und die Säkularisierung der Volksschule durchgesetzt. Den Unterricht sollten in Zukunft nicht mehr die reformierten Pfarrer erteilen, sondern ausgebildete Volksschullehrer. Die rasche Modernisierung aller Lebensbereiche überforderte die oft schlecht gebildete einfache Bevölkerung im Kanton. Demagogen und Volksaufhetzer hatten dadurch ein leichtes Spiel und gewannen Publikum und Anhänger durch Flugschriften und öffentlichen Ansprachen. Zur Bekämpfung der modernen Volksschule bildete sich im Frühjahr 1839 ein straff organisiertes «Glaubenskomitee», das Ableger in allen Bezirken und Gemeinden hatte. Die Vereinigung trat in Ton und Propaganda als Gegenregierung auf und bereitete den Umsturz organisatorisch vor, für den auch hier nur noch ein Anlass gefunden werden musste. Der war mit einem Zeitungsinterview gegeben, in dem ein Berner Staatsrat eine Schutzerklärung für die liberale Zürcher Regierung abgab: Man werde im Fall mit 15 Bataillonen an die Limmat ausrücken. Bevor das in Folge schnell verbreitete Gerücht, Berner rückten vor, um «die richtige Religion auszurotten» und die Protestbewegung zu unterdrücken, dementiert werden konnte, machte das Land mobil.
Am 5. September 1839 liess der Pfarrer Bernhard Hirzel von Pfäffikon die Glocken Sturm läuten. Unter dem Schlachtruf «Vorwärts, wer ein guter Christ ist!» zog das Landvolk unter seiner Führung zur kurz zuvor ihrer Mauern beraubten offenen Stadt Zürich. Zum Sturm war man jedoch nicht auf Anhieb bereit. Am Vormittag des 6. September trafen 2000 Bewaffnete hinter dem Milchbuck in Oberstrass ein. Während Zürcher Regierungsvertreter darum bemüht waren die Rotte zum Abzug zu bewegen, beharrten deren Führer darauf, dass ihre erschöpften Leute verköstigt würden und eine Petition an die Regierung übergeben werden könne. Doch daraus wurde nichts. Der aufgeputschte Haufen stürmte mittags die Stadt in Richtung Paradeplatz, wo sich die verunsicherte Regierung durch ein Artillerieregiment gesichert im Posthof verschanzt hatte. Es fielen Schüsse durch die herbeigeeilte Infanterie, vierzehn Putschisten fielen, ein Regierungsrat, der den Befehl zum Einstellen des Feuers überbringen sollte, ebenfalls.
Durch die Ereignisse orientierungslos und konfus löste sich der Regierungsrat des Kantons Zürich de facto auf und überliess die Geschäfte einem konservativ-reaktionären Regime, das am 9. September 1839 in einer tumultösen Sitzung verfassungswidrig die Selbstauflösung des Grossen Rates des Kantons Zürich beschliessen liess und Neuwahlen ansetzte. Eine Intervention der übrigen liberalen Kantone blieb, da viel zu zerstritten, freilich aus. Innerhalb von zehn Tagen trat der neue, konservative Grosse Rat zusammen, der gemäss dem Wahlaufruf nicht aus «wissenschaftlich gebildeten», sondern aus «gottesfürchtigen Männern» bestehen sollte. Wie zu erwarten besetzte er, ebenfalls gegen den Wortlaut der Verfassung, sämtliche Verwaltungsämter mit reaktionären Köpfen. Dem sogenannten «Septemberregime» war jedoch keine Dauer beschieden. Schon fünf Jahre später, 1845, waren die Liberalen wieder an der Macht, die Folgen des Zürich-Putsches überwunden und Stadt und Land auf dem Weg der Versöhnung.